19.01.2019
Der folgende Artikel ist die Übersetzung eines Artikels aus der Zeitschrift Lutte de Classe (Nr.195, November 2018), der zweimonatlichen Zeitschrift unserer französischen Genossen von Lutte Ouvrière.
Vom 26. August bis zum 14. September waren die zwei ostdeutschen Städte Chemnitz und Köthen nacheinander Schauplatz rechtsextremer Demonstrationen mit bis zu 6.000 Teilnehmern. In beiden Fällen stürzte sich die extreme Rechte buchstäblich auf eher alltägliche, tragische Todesfälle, in die Asylbewerber verwickelt waren, um sie für ihre politischen Zwecke zu instrumentalisieren.
Als erste reagierten verschiedene Gruppierungen und Parteien der gewalttätigen extremen Rechten. Mit Hilfe der sozialen Netzwerke sind diesmal alle rivalisierenden Strömungen zusammengekommen: Nostalgiker der Nazizeit, Identitäre, Hooligans...
Entgeistert entdeckte die Bevölkerung, wie Männer auf Kundgebungen den verbotenen Hitler-Gruß machten und kaum die Abenddämmerung abwarteten, um mit Rufen wie "Nationalsozialismus!" oder "Adolf Hitler!" durch die Stadt zu demonstrieren. Am Rande der Demonstrationen gingen einige auf Menschenjagd. Vermummte Männergruppen umzingelten einzelne Menschen, die allein unterwegs waren und die sie für Migranten hielten – manche waren nebenbei Deutsche mit Migrationshintergrund oder ausländische Studenten. Sie kreisten sie ein, beleidigten sie, verlangten ihre Papiere. Manche wurden zusammengeschlagen. So etwas wäre vor zwei oder drei Jahren noch unvorstellbar erschienen. Oft sah die Polizei nur zu und ließ alles geschehen.
Die AfD hatte ihren Mitgliedern lange Zeit gemeinsame Demonstrationen mit der islamfeindlichen Pegida-Bewegung verboten, die 2014 im nahegelegenen Dresden gegründet worden war. Sie fürchtete, dass sie das zu sehr in Verruf bringen würde. Auf den Druck insbesondere der radikalsten Landesverbände in Ostdeutschland wurde dieses Verbot im Frühjahr 2018 aufgehoben. Und am 1. September, nach mehreren Demonstrationen der Neonazis, organisierte die AfD zum ersten Mal offen eine gemeinsame Demonstration mit Pegida. In ihrem Demonstrationszug liefen einfache Bürger mit, die zeigen wollten, dass sie wütend oder verängstigt sind und mehr Sicherheit wollen. Aber auch Neonazis und Hooligans reihten sich in den Demonstrationszug ein. Damit hat die AfD die von ihr selbst gezogene rote Linie überschritten und hat dem gewalttätigsten Teil der extremen Rechten, der bisher unbedeutend war und am Rand der Gesellschaft stand, Ansehen und Gehör verschafft.
All dies verursachte einen Schock in einem Land, von dem viele dachten, es sei gegen den Faschismus immun. Tatsächlich war Deutschland bis vor kurzem eines der wenigen Länder Europas, das vom Erstarken der extremen Rechten, der rassistischen Ideen und Abschottungsgedanken weitgehend verschont blieb. Deutschlands tragische Geschichte hat hierzu beigetragen, ebenso der Schulunterricht und insgesamt die klare Verurteilung der Nazizeit, dass Antisemitismus, Rassismus und Faschismus in Deutschland anscheinend keinen Platz hatten. Aber gerade die Art und Weise, wie diese Geschichte immer wieder erzählt wird - indem von der Grundschule an immer wieder gepredigt wird, dass jeder einzelne Deutsche persönlich und für alle Zeiten die Verantwortung für den Völkermord an den Juden trägt - hat auch dazu geführt, dass ein Teil die Nase voll davon hat. Und die Rechtsextremen nutzen das aus.
Auf jeden Fall ist es tragisch zu sehen, dass sich achtzig Jahre nach der Katastrophe des Nationalsozialismus heute einige Leute offen darauf berufen können. Ein Teil von ihnen ist sich zweifellos der Tragweite solcher Gesten nicht bewusst. So die Frau, die bei einer Demonstration auf die Frage eines Fernsehreporters fast ruhig antwortete: „Ich bin für die Nation und für den Sozialismus. Wenn das Nationalsozialismus ist, ja okay, dann bin ich Nationalsozialist.“
Es gibt schon lange verschiedene Neonazi-Gruppen und -Grüppchen. Doch sie fristeten ein Dasein am Rand der Gesellschaft und wurden wie Aussätzige behandelt. Die Ereignisse vom September lassen vermuten, dass sie nun einen Teil der Bevölkerung beeinflussen, wenn auch immer noch eine sehr kleine Minderheit.
Die Flüchtlinge, ein Glücksfall für die AfD
Die Wurzel des Aufstiegs der AfD ist, wie überall, die Wirtschaftskrise und der Versuch der Politiker, den Zorn oder die Ängste der betroffenen Bevölkerung von den wahren Verantwortlichen abzulenken.
In den letzten Jahren ist die Prekarität in Deutschland explodiert, und mit ihr die niedrigen Löhne, die Zahl der „arbeitenden Armen“, besonders die Zahl der Frauen, die in Teilzeit gezwungen werden und entsprechend niedrige Löhne haben. Die Wirtschaftskrise führt zu einer Verarmung der Arbeiterklasse, ohne Aussicht auf eine Verbesserung der Lage. Dies ist der Nährboden für die extreme Rechte. In diesem Sinne ist das, was derzeit in Deutschland geschieht, nichts einzigartiges, sondern trägt eher dazu bei, dass sich die Lage in Deutschland der in den Nachbarländern annähert.
Die AfD ist erst vor fünf Jahren, im Februar 2013 gegründet worden und wollte damals schlicht eine euroskeptische Partei sein. Ihre Gründungsmitglieder waren Wirtschaftswissenschaftler, Universitätsdozenten und Kleinunternehmer, die vorher vielfach Mitglied der traditionellen Parteien, CDU, CSU oder FDP gewesen waren. Die Presse nannte sie „die Professorenpartei".
Sie erlebte einen ersten Bruch, als F. Petry 2015 die Führung übernahm und die AfD auf die extreme Rechte und den Kampf gegen den Islam orientierte. Die AfD verlor an Fahrt und diese Wendung hatte zunächst keinen Effekt. Im Sommer 2015 munkelten einige Journalisten bereits, dass die AfD nicht mehr lange existieren würde. In Anbetracht dessen, was sich in anderen Ländern abspielte, war dies nicht sehr scharfsichtig.
Und am Ende des Sommers 2015 wurde die Flüchtlingskrise DIE Gelegenheit für die AfD. Der derzeitige AfD-Vorsitzende A. Gauland - dreißig Jahre CDU-Mitglied - sagt es offen, mit folgenden Worten: Die Ankunft der Flüchtlingen in Deutschland war "ein wunderbares Geschenk" für meine Partei.
Es ist zwar falsch zu behaupten, dass die Ankunft der Flüchtlinge die extreme Rechte in Deutschland stärker gemacht hat. Aber es ist klar, dass es der AfD gelungen ist, diese Frage auszunutzen, indem sie ihr gesamtes öffentliches Auftreten auf die Flüchtlinge und den Hass auf die "Eliten" zu konzentrieren. Die AfD hatte beobachtet, wie die gesamte politische Klasse immer stärker in Misskredit geriet. Sie präsentierte sich daher als Anti-System-Partei, als Partei gegen das Establishment und versuchte, sich als Erneuerer auszugeben.
Von da an begann die AfD gegen muslimische Migranten, gegen "Masseneinwanderung" oder "das Asyl-Chaos" zu hetzen. Diese Sprache ist in Deutschland neu, ebenso wie die Tatsache, dass Migranten für die Probleme des Landes verantwortlich gemacht werden. Die Heftigkeit der Angriffe gegen Angela Merkel und ihre Asylpolitik erschütterten auch die Gewohnheiten der übrigen Parteien, die ansonsten zivilisierter miteinander umgehen. Auch dies war eine Haltung, die die AfD sehr bewusst und gezielt eingenommen hat. All dies sollte zum Erscheinungsbild einer kampfbereiten Partei beitragen – einer Partei, die laut ausspricht, was die Politiker nie zu sagen wagen und die den Konsens sprengt, der unter den Privilegierten herrscht.
Die AfD lebt von der Regierungskrise und verschärft sie
CDU, SPD und FDP, die sich seit 1949 in der Regierung abwechseln und lange Zeit zusammen fast alle Stimmen auf sich vereinen konnten, haben alle drei ihre Glaubwürdigkeit verloren. Für die Institutionen, die als stark und gefestigt galten, sind damit turbulente Zeiten angebrochen. Der Verschleiß begann als erstes bei der SPD. Sie hat sich nie davon erholt, dass sie vor 15 Jahren die Hartz-Gesetze eingeführt hat – diesen Großangriff auf die Arbeitslosen, durch den sich außerdem die Geißel der prekären Arbeitsverhältnisse verbreitet hat.
Die Bundestagswahlen vom September 2017 zeigten außerdem deutliche Verluste für die CSU, was sich in den Landtagswahlen vom 14. Oktober 2018 bestätigte. Diese Partei, die unablässig gegen Merkel wettert, hat von allen am meisten Stimmen an die AfD verloren, viel mehr als Merkels CDU. Doch die Wählerschaft aller Regierungsparteien ist bedeutend geschrumpft: 2017 erreichten die Parteien der jetzigen Großen Koalition, CDU, CSU und SPD, mit 53,5% der abgegebenen Stimmen das schlechteste Wahlergebnis aller Zeiten.
Vor einem Jahr war die Kanzlerin nach dreizehn Jahren an der Regierung zwar wieder Wahlsiegerin. Aber, was es noch nie gegeben hatte: Sie brauchte fast sechs Monate, um eine Regierung zu bilden. Es gab keine klare Mehrheit, so zersplittert waren die Stimmen. Alle möglichen Koalitionen wurden (außer mit der AfD) ins Auge gefasst. Doch der Schatten des AfD-Erfolgs mit ihren 12,6 % lastete auf den Verhandlungen. Die FDP schlug die Tür hinter sich zu; die SPD, die vorher eine Regierungsbeteiligung kategorisch ausgeschlossen hatte, entschied sich schließlich widerstrebend, doch in die Regierung zu gehen – in vollem Bewusstsein, dass sie auf diese Weise ihren Niedergang beschleunigen würde.
Bereits diese Verhandlungen wurden durch die Haltung der CSU erschwert, die immer neue Forderungen stellte – Forderungen, die alle im Sinne der Rechtsextremen waren. Ihr Chef H. Seehofer versteifte sich darauf, dass im Koalitionsvertrag eine jährliche Obergrenze für Migranten festgelegt werden müsse. Selbst wenn die von ihm geforderte Höchstzahl von 200.000 alles andere als vernachlässigbar ist und auf jeden Fall höher als die Zahl der Migranten, die 2017 tatsächlich nach Deutschland gekommen sind, beharrte er auf der Obergrenze. Es ging ihm um den Machtkampf mit der Kanzlerin, die sich ihrerseits weigerte, ein Grundrecht wie das Asylrecht im Voraus auf diese Obergrenze zu beschränken.
Schon bei der Regierungsbildung konzentrierte sich die Krise zwischen CDU und CSU daher vor allem auf die Migrationspolitik. Der andere Koalitionspartner, die SPD, war praktisch nicht vorhanden. In dem Versuch, die Wähler der AfD durch eine immer rechtere Politik zurückzugewinnen, forderte A. Merkels Innenminister Seehofer immer mehr Einschränkungen des Asylrechts. Merkel, die sich eine Weile widersetzte, gab am Ende meist nach, um ihre Koalition zu retten. Ende Juni erklärte Seehofer sogar, dass er das Dublin-Abkommen (der EU) einseitig verlassen werde und drohte Migranten, die durch ein anderes europäisches Land eingereist seien, in dieses Land zurückzuschicken. Er hatte dazu absolut nicht die Macht, aber was soll‘s. Er unterstützte und stärkte die AfD, indem er Migranten zum Haupt-Thema im politischen Leben machten.
Ein Jahr nach der Wahl erscheint die Kanzlerin, die nun so oft den Forderungen der CSU nachgegeben hat, politisch sehr geschwächt. Die wacklige Koalition gerät von einer Regierungskrise in die nächste, die allesamt mehr oder weniger von der CSU verursacht werden. Die CDU ist extrem gespalten, hin- und hergerissen zwischen dem von Merkel eingeschlagenen gemäßigten Kurs und der Versuchung, sich der extremen Rechten anzupassen. Der Aufstieg der AfD, eine Folge der Vertrauenskrise, in der die traditionellen Parteien stecken, verstärkt diese Krise erheblich.
Im April kam es in Bremen zu einem Skandal um das BAMF – das Bundesamt, das für Aufenthaltsgenehmigungen und politisches Asyl zuständig ist. Das BAMF in Bremen geriet in den Verdacht, viel zu oft Asyl zu gewähren. Der Skandal sorgte wochenlang für Schlagzeilen, künstlich angeheizt von den Konservativen und der extremen Rechten, ebenfalls mit dem Ziel, die öffentliche Diskussion zu polarisieren und die Kanzlerin zu schwächen. Die Leiterin des Bremer BAMFs musste zurücktreten. Eine heftige Kampagne warf ihr und den Mitarbeitern vor, systematischen Betrug organisiert und sogar Flüchtlinge aus anderen Gegenden nach Bremen geholt zu haben, um ihnen Aufenthaltsgenehmigungen zu verkaufen, ohne ihre Situation zu prüfen. Ihnen wurde grobe Fahrlässigkeit, Betrug und Korruption vorgeworfen. Sie wurden wie Kriminelle behandelt. Das BAMF als Ganzes wurde in Frage gestellt. Und auch bei der Kritik am BAMF ging es eigentlich darum, die Kanzlerin zu treffen. Es wurde so dargestellt, als wäre sie mit der chaotischen Einwanderung überfordert.
Doch nachdem man drei Monate lang die Situation aller betroffenen Flüchtlinge überprüft hatte, war das Ergebnis eindeutig: In 99,3% der Fälle wurden die Asylentscheidungen des Bremer BAMF bestätigt! Von wegen Fehler, geschweige denn organisierte Täuschung. Aber natürlich hat diese Information nicht für Schlagzeilen gesorgt. Sie wurde nicht Tag für Tag in den Medien wiederholt, und Seehofer gab auch keinen Kommentar zu ihr ab. Sie erschien nur als lakonische, kleine Meldung auf den Innenseiten der Zeitungen.
Eine weitere Regierungskrise wurde anlässlich der rechtsextremen Demonstrationen in Chemnitz von einem Mann ausgelöst, der in der Öffentlichkeit bis dahin unbekannt gewesen war: dem Leiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen. Die Rolle des Leiters des Verfassungsschutzes besteht absolut nicht darin, öffentlich politisch Stellung zu beziehen. Doch nur wenige Tage, nachdem Merkel die Anstifter von Hass und Lynchjustiz in Chemnitz angeprangert hatte, widersprach Maaßen ihr in einem Interview in der BILD-Zeitung öffentlich. Er, der von allen über die meisten Informationen verfügen müsste, leugnete, dass Menschen verfolgt worden seien. Ja, er sprach sogar davon, dass ein Video gefälscht worden sei, um die berechtigte Wut auf eine zweitrangige Angelegenheit zu lenken, statt sie gegen die wahren Verbrecher zu richten (sprich die Flüchtlinge). Mehrere Politiker von CDU und CSU schlossen sich ihm an.
All das war eine eindeutige Botschaft an die Rechtsradikalen: An der Spitze der Behörden gibt es Menschen, die auf eurer Seite stehen. Über den Fall Maaßen hinaus lüfteten die Ereignisse vom September einen kleinen Zipfel des Schleiers, der die Verbindungen zwischen den Rechtsradikalen und einem Teil des Staatsapparats verhüllt – Verbindungen insbesondere bei der Polizei, aber auch bei der Armee, der Justiz und den konservativen politischen Kreisen.
Merkel selbst wollte die Wogen glätten und die Bedeutung des Vorfalls herunterspielen, bis die Stimmen, die Maaßens Entlassung forderten, immer lauter wurden. Die Regierungskoalition drohte wieder zu platzen. Bis zum Schluss behielt Maaßen die volle Unterstützung seines Vorgesetzten, Innenminister Seehofer. Und als er schließlich abgesetzt wurde, setzte Seehofer als letzte Provokation bei seinen Koalitionspartnern durch, dass Maaßen stattdessen Staatssekretär im Innenministerium würde! Er bot ihm also eine Beförderung an und sandte damit auch ein Signal an die rechtsextremen Schläger, dass sie ungestraft weitermachen können. Angesichts des Aufschreis des Protests, der dieser Ankündigung folgte, musste er einen Rückzieher machen, ohne Maaßen jedoch zu bestrafen. Seehofers Provokationen, Ausdruck der politischen Krise, führen die Machtlosigkeit Merkels und der SPD vor Augen. Sie verschärfen die Krise und erwecken auch den Eindruck, dass die Regierenden unfähig oder schlichtweg Narren sind.
Eine Partei mit zwei Strategien, zwischen Seriosität und Provokationen
Die AfD ist derzeit die Partei, die vom Erstarken der extremen Rechten am meisten profitiert. Seit ihrer Gründung im Jahr 2013 hat sie einen sehr schnellen Aufstieg und tiefgreifende Veränderungen durchlebt.
Zwei Jahre, nachdem F. Petry die Parteiführung übernommen hat, um die AfD zu radikalisieren, wurde sie ihrerseits ausgebootet. Während der Parlamentswahlen 2017 führte die AfD besonders im Osten einen abscheulichen Wahlkampf gegen Migranten. Einige ihrer Sprecher brachen mit einem weiteren gesellschaftlichen Konsens. Sie stellten sich gegen die offiziell vertretene These der Kollektivschuld gegenüber dem Nationalsozialismus. Einige verstiegen sich sogar zu geschichtsrevisionistischen Aussagen, die die Judenvernichtung verharmlosen oder in Frage stellen.
Um die Verbrechen der Nazis zu relativieren, organisieren die Neonazis schon seit langem jedes Jahr Demonstrationen zum Gedenken an die Bombardierungen der Alliierten, die Dresden im Februar 1945 zerstörten und fordern das Recht für das deutsche Volk, "seine Opfer" zu betrauern. Die AfD griff nun diese Sichtweise auf die Vergangenheit auf. Björn Höcke, einer der führenden Köpfe der Thüringer AfD, der in der Jungen Union (der Jugendorganisation der CDU) gewesen war und gute Kontakte zur österreichischen Identitären Bewegung pflegt, hielt eine aufsehenerregende Rede über Erinnerungskultur. Er äußerte seine Empörung darüber, dass sein Land das einzige sei, das sich ein "Denkmal der Schande" (das Denkmal für die Opfer der Judenvernichtung) in das Herz seiner Hauptstadt gepflanzt habe – und forderte anschließend "eine positive Sichtweise unserer Geschichte".
Das war zu viel für Petry, die befürchtete, dass solche Reden die Wähler verschrecken würden. Sie selbst suchte nach einer realistischen Möglichkeit, um bereits 2021 an die Macht zu kommen - also über Wahlen und notwendigerweise als Teil einer Koalition. Sie versuchte, Höcke auszuschließen. Aber jetzt war sie es, die in die Minderheit geriet. Sie zog die Konsequenzen und trat am Tag nach ihrer Wahl in den Bundestag aus der AfD aus.
Am 24. September 2017 zog die AfD mit einem Bundesdurchschnitt von 12,6% und 92 Abgeordneten in den Bundestag ein. Trotz des Verhältniswahlrechts und der Hürde von nur 5% war seit 1953 keine rechtsextreme Partei in den Bundestag gewählt worden. Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre war es der rechtsextremen NPD zwar gelungen, einige Sitze in den Landtagen zu ergattern und in den letzten Jahren in den ostdeutschen Landtagen. Aber im Bundestag war sie nie. Die AfD hingegen ist hier nun gut vertreten, ebenso in mittlerweile fünfzehn von sechzehn Landtagen.
Am Abend der Bundestagswahl erklärte Gauland in seinem üblichen Provokationsmodus: "Wir werden Frau Merkel jagen (…), wir werden uns unser Land und unser Volk zurückholen.“ Der Ton war gesetzt.
Ähnlich wie Höcke griff er die offizielle Geschichtsauffassung der deutschen Vergangenheit an und erklärte im Sommer 2018: "Hitler und die Nazis sind nichts als ein Vogelschiss im Verlauf von mehr als tausend Jahren glorreicher Geschichte." Diese verbalen Entgleisungen sind keine versehentlichen Ausrutscher, sie sind gezielte Strategie. Ein internes Papier aus dem Jahr 2017 belegt dies. Es setzt sich zum Ziel, "Provokationen sorgfältig zu planen". Die AfD hat zwei Gesichter. Sie will sehen, wie weit sie gehen kann, um die Radikalsten zu verführen und gleichzeitig die Möglichkeit zu behalten, über traditionelle Wege an die Regierung zu gelangen – und damit an Futtertrog, zu dem eine Regierungsbeteiligung Zugang verschafft. Mit dieser Strategie hat sich die Grenze dessen, was in Deutschland gesagt werden darf und was nicht, deutlich verschoben.
Die Schließung der Grenzen, die Gleichsetzung von Migranten und Kriminellen, der Platz des Islam usw. sind zu zentralen Themen geworden, was vor 2016 absolut nicht der Fall war. Die Ereignisse in Chemnitz und Köthen zeigen, dass die AfD dem gewalttätigsten Teil der extremen Rechten, der im Schatten wartete, zur Sichtbarkeit verholfen hat. Von jetzt an sind selbst Verweise auf den Nationalsozialismus oder Bewunderung für Hitler weniger schockierend. Die AfD hat Einfluss und es ist ihr gelungen, die bundesweite politische Debatte weit über ihre Wahlergebnisse hinaus zu polarisieren.
Diese heterogene und sich schnell radikalisierende Partei besteht zum großen Teil aus ehemaligen Mitgliedern der konservativen Parteien CDU, CSU, FDP und sogar einigen SPD-Überläufern, während ein anderer Teil ihrer Mitglieder aus rechtsradikalen Gruppen (NPD, Republikaner) stammt. Auch ihre Landesverbände sind heterogen, wobei die AfD im Westen im Allgemeinen gemäßigter ist. Nach dem Aufschrei, den Chemnitz ausgelöst hat, machte die Führung einen Rückzieher und forderte ihre Mitglieder auch, nur noch an reinen AfD-Demonstrationen teilzunehmen, um nicht mit den Neonazis gleichgesetzt zu werden. Darauf antwortete die sächsische Landesleitung, dass sie dieser Anweisung nicht Folge leisten, sondern weiterhin mit Pegida zusammen demonstrieren werde. Umgekehrt trat der Hamburger Parteichef der AfD nach den Ereignissen von Chemnitz aus der Partei aus.
Bis zu den Ereignissen von Chemnitz existierte die AfD hauptsächlich über und in den Wahlen. Seit einem Jahr hat sie die ihr zuteilwerdende Aufmerksamkeit, insbesondere über ihre Abgeordneten genutzt, um eine rassistische Hasspropaganda zu verbreiten, die sich hauptsächlich gegen den Islam richtet und auch antisemitische Züge hat. Durch ihre Erfolge hat sie den rechtsradikalen Schlägern Flügel verliehen. Die jüngsten Ereignisse machen einen Mechanismus deutlich. Sie veranschaulichen ganz konkret, wie sich der Wahlerfolg der extremen Rechten plötzlich in etwas anderes verwandeln kann. Die AfD wollte trotz ihrer Provokationen seriös bleiben. Ja, sie verwehrte sich sogar die Bezeichnung rechtsextrem. Nun demonstrierte sie zum ersten Mal offen mit organisierten Neonazis, trotz deren Menschenjagden und Naziliedern. Und der Anklang, den die AfD findet, hat es diesen Menschen erlaubt, aus dem Dunkel hervorzukommen, zu bedrohen, zu beschimpfen, einzuschüchtern. Mitte September wurde übrigens in Chemnitz von der Polizei eine bewaffnete Gruppe enttarnt, die Anschläge auf Migranten und linke Aktivisten plante.
In dem Maße, wie sich die Krise verschärft, kann sich ein solcher Vorgang wiederholen und im großen Maßstab stattfinden. Auch in Frankreich gibt es im "Rassemblement national" (der ehemaligen „Front National“) eine Reihe von Nostalgikern und Anhängern diktatorischer und terroristischer Methoden. Die Zukunft ist noch nicht geschrieben, weder in Deutschland noch anderswo. Aber es ist wichtig, die Bedeutung dessen zu verstehen, was sich gerade abgespielt hat und die Bedrohung, die sich dahinter verbirgt.
Die CSU radikalisiert sich, die CDU ist zerrissen
Die AfD nimmt bei ihren Angriffen sehr stark Merkel ins Visier. Eine ihrer zentralen Parolen bei Demonstrationen ist seit Jahren: "Merkel muss weg!" Ein Teil der Union fühlt sich jedoch von der AfD angezogen. Einige örtliche CDU-Vorsitzende denken über eine Annäherung an die AfD an - vor allem in Gegenden, in denen die Union selber relativ weit rechts steht und in der die AfD besonders stark ist. Gauland seinerseits erklärte kürzlich, dass seine Partei bereit sei, mit einer CDU zu regieren, die „zur Besinnung gekommen ist".
So ist es nicht verwunderlich, dass im September mehrere führende Parteifunktionäre von CDU und CSU schnell ihr Verständnis für die rechtsextremen Demonstranten zum Ausdruck brachten und die Gewalttaten herunterspielten.
Seit dem Wahlerfolg der AfD im Jahr 2017 ist die CSU von der Angst besessen, ihre absolute Mehrheit im Bayerischen Landtag zu verlieren. Seit 1962 ist ihr das nur einmal passiert. Für sie sind Bayern und CSU ein und dasselbe. Daher hat sie in immer schärfere Reden gegen die Migranten geschwungen, ja letztlich haben sie sogar die Sprache der AfD übernommen. In diesen Wettstreit haben CSU und AfD sich immer weiter hochgeschaukelt, sind immer radikaler geworden. Genau wie die Rechtsextremen haben Seehofer, Markus Söder und Alexander Dobrindt immer häufiger rassistische Äußerungen von sich gegeben. Söder ließ in allen öffentlichen Gebäuden Bayerns Kruzifixe anbringen, was alle als Geste gegen Muslime verstanden haben. Selbst die Kirche kritisierte dies. Der Bayerische Landtag verabschiedete ein Gesetz, das die Befugnisse der Polizei deutlich ausweitet. So darf nun beispielsweise jeder in Bayern abgehört werden. Im Frühjahr 2018 brachte der Protest gegen das Polizeigesetz eine beachtliche Menschenmenge auf die Straße, insbesondere in München.
Das Mindeste, was man sagen kann, ist, dass die CSU mit ihrer Taktik keinerlei Erfolg hatte. Seit sie diesen Kurs verfolgt, hat die CSU - die 2013, bereits in der Phase ihres Niedergangs, noch 47,7% der Stimmen erhielt - in den Umfragen unablässig verloren. Die Wähler, die sich von der extremen Rechten angezogen fühlen, wählen lieber direkt das Original (also die AfD). Die Gemäßigten hingegen, die mit den jüngsten politischen Entwicklungen nicht einverstanden sind, wählen die Grünen oder enthalten sich.
Interessant ist in diesem Zusammenhang die Aussage des Kapitäns der „Lifeline“, eines humanitären Rettungsschiffes. Dieser 57-jährige Bayer und CSU-Wähler verurteilt, dass die NGOs daran gehindert werden, Frauen, Männer und Kinder vor dem Ertrinken zu bewahren. Er ist angewidert vom Zynismus der Politiker, von Aussprüchen wie Söders Bemerkung über den sogenannten „Asyltourismus“. Und er stellt fest, dass die führenden Köpfe der CSU „versuchen, die AfD rechts zu überholen und derzeit die Quittung für diese Politik bekommen“. Sein Fazit: Man wird ihn nicht mehr dazu bringen, für die CSU zu stimmen. Er wünscht ihr, dass sie bei den Wahlen untergeht.
Drei Wochen vor der Wahl vollführte die CSU plötzlich eine 180-Grad-Wendung. Auf einmal taten Seehofer und Söder so, als hätte sich die AfD in Chemnitz entlarvt und als hätten sie jetzt ihre wahre Natur erkannt. Auf einmal begannen sie die AfD anzugreifen und beschworen in dramatischen Worten die Gefahr des Faschismus - Warnungen, die wenig glaubwürdig sind von einer Partei, die sich monatelang der AfD angepasst hat.
Bei den Landtagswahlen am 14. Oktober hat die CSU schließlich 37,2% der Stimmen erhalten. Sie ist damit bei Weitem die stärkste Partei geblieben. Für sie jedoch, die jahrzehntelang immer die absolute Mehrheit hatte, ist dies ein katastrophaler Stimmeneinbruch. Die SPD hat genauso viele Stimmen verloren, aber von einem deutlich niedrigeren Ausgangspunkt aus: Sie ist von 20,6% auf 9,7% gefallen und unterschreitet damit die symbolische Schwelle von 10%. Die Grünen profitieren am meisten von der Zersplitterung der Stimmen und der Unzufriedenheit mit den großen Regierungsparteien: Sie haben ihr Ergebnis verdoppelt und landen mit 17,5% der Stimmen auf dem zweiten Platz. Bei der letzten Landtagswahl im Jahr 2013 ist die AfD noch nicht angetreten. Mit 10,2% der Stimmen erreicht sie zumindest kein besseres Ergebnis, als sie in Bayern bei der Bundestagswahl 2017 erzielt hat. Doch erstmals werden rechtsextreme Abgeordnete in den Bayerischen Landtag einziehen.
Am Samstag, den 13. Oktober - dem Vorabend der Wahlen in Bayern - fand in Berlin eine Massendemonstration statt, bei der wohl über 200.000 Menschen gegen die extreme Rechte auf die Straße gegangen sind. Seit Ende August hat es in zahlreichen Städten solche Gegendemonstrationen gegeben, zunächst in Chemnitz und Köthen, aber dann auch in München, Hamburg, Essen und Köln. In Berlin hatte ein Bündnis aus NGOs, Gewerkschaften, Parteien wie Die Linke und religiösen (christlichen und muslimischen) Organisationen zu dieser Demonstration aufgerufen.
Die Organisatoren riefen nicht nur zum Protest gegen die extreme Rechte auf, sondern auch gegen die Zunahme von Ungleichheit und Armut, gegen alle Formen der Diskriminierung, gegen den Tod von Flüchtlingen im Mittelmeer. Auf den Schildern standen Sprüche wie "Kein Platz für Nazis", "Seenotrettung ist kein Verbrechen" oder "Seebrücken statt Seehofer".
Alle waren überrascht, was für eine riesige Menschenmenge an der Demonstration teilgenommen hat, und diese Mobilisierung ist sicherlich ermutigend. Um die extreme Rechte zu stoppen, reicht jedoch keine noch so große Demonstration aus. Um die braune Pest daran zu hindern, die Gesellschaft in Barbarei zu stürzen, ist es hier wie überall notwendig, dass die Ausgebeuteten sich einer Klassenpolitik bemächtigen. Denn nur sie ist in der Lage, der gesamten Gesellschaft eine Zukunft zu eröffnen.
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