Die Weltwirtschaftskrise geht in die zweite Runde

 

Februar 2012

Der Kriseneinbruch von 2008 war der massivste seit 80 Jahren. Nach einem Zwischenaufschwung von 2009 bis 2011 gewinnt die Krise jetzt wieder an Fahrt. Eine Aktualisierung unserer Einschätzung.

Dass sich das kapitalistische Wirtschaftssystem in der schwersten Krise seit 80 Jahren befindet, haben wir in unseren „Thesen zur Weltlage" 2009 an drei Dingen festgemacht: dem Rückgang der Industrieproduktion, der Geschwindigkeit der Krisenentwicklung und daran, dass die Krise international synchron verläuft.

Wir analysierten, dass sich die gegenwärtige Krise in einigen Aspekten von der Weltwirtschaftskrise 1929 unterscheidet: in der bisherigen Tiefe der Krise, in der anderen staatlichen Finanzpolitik, in der zumindest anfänglich einigermaßen funktionierenden internationalen Koordination in der Kriseneindämmung, was wiederum mit dem Vorhandensein einer Hegemonialmacht, also einer eindeutig vorherrschenden imperialistischen Macht, nämlich den USA, zusammenhängt. Wir schätzten ein, dass die USA durch die Krise geschwächt werden könnten, aber weder die EU noch China auf absehbare Zeit in der Lage sein würden, die USA als Hegemonialmacht zu ersetzen.

Wir stellten in Frage, dass die Finanzspritzen für Banken und Konzerne und die Konjunkturprogramme die eigentliche Krisenursache, nämlich die Überakkumu-lation von Kapital, überwinden könnten. Wir prognostizierten, dass die neo-liberale Politik fortgesetzt würde, insbesondere was die Angriffe auf den „Wohlfahrtsstaat" und die Lohnabhängigen betrifft. Wir erwarteten durch die Krise einen „Umverteilungsprozess zwischen einzelnen Kapitalgruppen" und einen „gigantischen Zentralisationsprozess des Kapitals".

Ein Ende der Krise?

Ab Herbst 2009, als der Wirtschaftseinbruch erst einmal die Talsohle über-schritten hatte, jubelten der Internationale Währungsfonds, die meisten bürgerliche Wirtschaftsexpert/inn/en und die Regierungen über ein angebliches Ende der Krise. Wir haben damals bereits – in dem Text „Trendumkehr in der Weltwirtschaft?" – unsere Skepsis formuliert. Wir sagten, dass ein gewisses Wirt-schaftswachstum angesichts des Ausmaßes, in dem die Regierungen ihre Kassen geöffnet haben, um die Banken freizukaufen, keine Überraschung sei. Allerdings sei eine solche Defizitkonjunktur langfristig nicht durchzuhalten. Nur China habe dafür die nötigen Devisenreserven; in den USA, der EU, Japan etc. hingegen würden die Staatsschulden deutlich ansteigen. Die von der Krise extrem verschärften staatlichen Finanzprobleme würden für sich genommen schon erhebliche ökonomische und soziale Auswirkungen haben.

Dazu käme noch, dass mit den Steuergeldern an den Börsen munter weiter spekuliert wird. Durch die staatlichen Bankenhilfsprogramme, die die einzige Möglichkeit waren, das System vor dem Komplettabsturz zu retten, und die großzügig gelockerten Bilanzierungsregeln wurden faule Kredite in der Höhe von wohl tausenden Milliarden US-$ eigentlich bankrotte Banken und längst insolvente Finanzfirmen gestützt. Wenn hier ein neuer, noch tieferer Einbruch käme, könnten all diese Bereiche ins Rutschen kommen und die Staaten (also die überwiegend lohnabhängigen Steuerzahler/innen), deren Finanzlage durch die Krise und ihre Kosten schlechter geworden ist, den Finanzsektor wohl kaum mehr freikaufen können. Wir hielten es damals (2009) für gut möglich, dass es in etwa zwei bis drei Jahren einen neuen, möglicherweise noch dramatischeren Kriseneinbruch geben wird. Dieser Einbruch dürfte jetzt begonnen haben.

Grundsätzlich fügten wir in diesem Text von Oktober 2009 hinzu: „Dass die aufgewendeten staatlichen Finanzmittel in eine neue Runde der Spekulation fließen, liegt nicht in erster Linie an den ‚bösen Börsianern' oder einer falschen ‚Finanzmarktarchitektur', sondern daran, dass die grundlegenden Probleme des kapitalistischen Weltwirtschaftssystems in seiner aktuellen Periode weiter bestehen. Die Überakkumulation, also übermäßige Anhäufung von Kapital, begleitet den Kapitalismus seit Jahrzehnten; es ist also mehr Kapital da als rentable produktive Anlagemöglichkeiten. Dieses fließt dann auch in die seit den 1990er Jahren unter Druck des Anlage suchenden Kapitals zunehmend liberalisierten Finanzmärkte. Anders als die Weltwirtschaftskrise ab 1929 und der Zweite Weltkrieg in Kombination hat die jetzige Krise noch nicht derart viel Kapital vernichtet, dass auf dieser Grundlage ein substanzieller Aufschwung möglich wäre. Es sind auch nicht neue Produktionsmethoden, die eine nachhaltige Effizienzsteigerung bringen würden, hervorgebracht worden oder eine neue Leitindustrie, ein neuer dynamischer Wirtschaftssektor, der als Zugpferd dienen könnte."

Der Zwischenaufschwung 2009-2011

Die Entwicklung der Industrieproduktion ist im Angebot der bürgerlichen volks-wirtschaftlichen Statistik unserer Meinung nach der verlässlichste Indikator für die Einschätzung von kapitalistischen Ökonomien: In den USA ist die Industrieproduktion im Jahr 2008 um 3,7% und 2009 gar um 11,2% gefallen, 2010 hingegen gab es ein Plus von 5,3%. In Japan ging die Industrieproduktion 2008 um 2% zurück, 2009 um 17%, 2010 war dann auch der Aufschwung mit 15,5% besonders stark. Bei den EU-27 belief sich der Rückgang 2008 auf 1,6%, 2009 auf 13,7%, der Anstieg 2010 machte 6,9% aus. Nach einer Fortsetzung der Erholung im ersten Halbjahr 2011 ist die Industrieproduktion seit Sommer/Herbst 2011 in den meisten Ländern wieder rückläufig.

Insgesamt gab es in Krise und Zwischenaufschwung erhebliche Unterschiede zwischen Ländern und Regionen. So ist etwa das Bruttoinlandsprodukt (BIP) von China auch in den Krisenjahren 2008 und 2009 um 9,6 beziehungsweise 9,2% (und damit langsamer als in der Jahren davor) gestiegen. Auch einige so genannte „Schwellenländer" haben die Krise relativ gut überstanden. Die Erholung 2010 führte in Asien zu einem BIP-Zuwachs von 8,3%, in den USA von 2,8%, in der Eurozone aber nur um 1,7%. In der EU waren die Auswirkungen der Krise sehr uneinheitlich: Der „deutsche Block", also Deutschland und einige eng mit der deutschen Wirtschaft verbundene Nachbarländer, hat auf Kosten der europäischen Peripherie (vor allem in Südeuropa, aber auch Irland und einige osteuropäische Länder) profitiert. Der „deutsche Block" erlebte von Herbst 2009 bis Herbst 2011 eine Art „Miniboom", während einige Länder der europäischen Peripherie (etwa Griechenland, Spanien oder Irland) zumindest zeitweilig einen BIP-Rückgang zu verzeichnen hatten.

Eine Grundlage dafür war, dass durch die intensivierte Ausbeutung der Lohn-abhängigen in Deutschland (mit Hartz 4 & Co.) die Lohnstückkosten der südeuropäischen Länder zwischen 2000 und 2005 im Vergleich zu Deutschland um etwa 10% gestiegen sind. Außerdem schaffte es die deutsche Industrie (besonders im Maschinenbau) besser als andere, nach China und Russland zu expandieren. Zwar sind die anderen EU-Länder immer noch der Haupthandels-partner Deutschlands, aber der Anteil von China und Russland ist gestiegen: Deutschland bestreitet mittlerweile 32% aller EU-Ausfuhren nach Russland (vor allem Industrieprodukte) und 18% der Einfuhren (vor allem Gas und Öl). In China hat die deutsche Industrie vom dortigen Immobilienboom stark profitiert. Durch den Euro hat die europäische Peripherie keine Möglichkeit mehr, gegenüber der stärkeren deutschen Wirtschaft eine eigene Währung abzuwerten, und gerät so immer tiefer in die Krise.

Bankenrettung und neue Probleme

Die Grundlage für den Zwischenaufschwung waren massive staatliche Hilfen, einerseits Bankenrettungspakete und andererseits Konjunkturprogramme, aber nur in geringem Ausmaß Kapitalvernichtungen. Nach dem Kriseneinbruch 2008 wurden nach Angaben des EU-Ratspräsidenten Herman Van Rumpuy allein in der EU über 1.200 Mrd. Euro in die Wirtschaft gepumpt, hauptsächlich zur Rettung der Banken. Die eigentlichen Konjunkturprogramme waren in den USA mit etwa 1.530 Mrd. $ deutlich höher als in der EU, besonders hoch aber in China, wo nach Krisenausbruch 450 Mrd. Euro in die Infrastruktur etc. investiert und 2009/10 nochmal über 1.800 Mrd. Euro an staatlichen Bankkrediten vergeben wurden. Nach Joaquín Almunia, Vizepräsident der EU-Kommission, erhielten die Banken weltweit von Oktober 2008 bis März 2010 etwa 4.000 Mrd. Euro Staatshilfen, davon drei Viertel in der Form von staatlichen Garantien (ein Viertel als mehr oder weniger aus Steuermittel „geschenkt"). Die Banken nahmen nach diesen Angaben von den Staatsgarantien tatsächlich 994 Mrd. Euro in Anspruch.

Auf dieser Grundlage machte der Finanzsektor bald wieder riesige Gewinne. Die großen Konzerne schütteten an ihre Aktionäre bereits 2009 wieder ordentlich Dividenden aus. Und während die Euro-Millionäre im Jahr 2008 auch gewisse Verluste beklagten (in Deutschland -10%, in Österreich -16%), berichtete der berüchtigte Valluga-Vermögensreport, in dem alljährlich auf geradezu obszöne Weise die Zuwächse der Superreichen gefeiert werden, 2011 von einem „Rekordjahr": „Traumbedingungen an den Kapital- und Rohstoffmärkten" würden „den Millionären zu ihrem neuen ‚All-Time-High'" verhelfen. Das Vermögen der Millionäre in Deutschland. Österreich und der Schweiz sei „von 2009 bis 2010 um sagenhafte 243 Milliarden (9,3%) auf den Rekordwert von 2.849 Euro" gestiegen, die Vermögenskonzentration habe weiter zugenommen.

Trotz dieser Erfolge für die herrschende Klasse konnte die Krise mit all diesen Maßnahmen aber nur abgefedert und verzögert, aber eben nicht überwunden werden. Die Kapitalvernichtung war zu gering, um einen neuen Aufschwung zu ermöglichen. Stattdessen wurden eigentlich bankrotte Finanzfirmen und Banken weiter im Spiel gelassen. Die erwähnten faulen Kredite werden langsam wieder spürbar (etwa von der Erste Bank, Raiffeisen und anderen österreichischen Banken in Osteuropa). Die Überakkumulation von Kapital (also die übermäßige Anhäufung, sodass sich eine produktive Verwertung für die Kapitalist/inn/en immer weniger rechnet) bekommt wieder die Oberhand.

Zu diesen alten Problemen kommen aber nun wie erwartet neue: Die finanziellen Spielräume der Staaten sind geringer geworden und angesichts des neuen Krisen-einbruchs sind weniger Gelder für Konjunkturprogramme und Bankenrettungen mehr da. Durch die immer systematischeren Angriffe auf die Lohnabhängigen kommt es gerade zu einem Einbruch der Kaufkraft, wodurch ein weiterer Krisenaspekt hinzugefügt wird (im EU-Laboratorium Griechenland wird das gerade vorexerziert). Durch die Spekulationen mit den Finanzhilfen ist eine neue Spekulationsblase entstanden, nicht nur in den USA und der EU, sondern auch in China, wo sich eine massive Immobilienspekulation entwickelt hat. Und während der chinesische Zentralstaat weiter Finanzreserven hat, gibt es auf der Ebene der Provinzen und Gemeinden mittlerweile eine erhebliche Verschuldung.

Finanzmarktdiktatur und EU-Krise

Nach dem Ausbruch der Krise 2008 war die herrschende Klasse erst einmal etwas desorientiert. Es gab unterschiedliche Vorschläge zum Umgang mit der Krise und in der bürgerlichen Öffentlichkeit wurde teilweise auch Kritik am Neoliberalis-mus laut. Mit Ach und Krach einigten sich die Regierungen und Institutionen im Auftrag der hinter ihnen stehenden Kapitalgruppen auf eine internationale Ab-stimmung in der Bekämpfung der Krise, eben vor allem auf die Bankenrettung. Um die Konjunkturprogramme gab es von Anfang an Konflikte, forderten doch die USA von der EU mehr Engagement in diese Richtung. Diese Konflikte trugen, ebenso wie Auseinandersetzungen zwischen den USA und China um Währungsfragen, bereits den Keim des Protektionismus in sich, ein offenes Ausbrechen konnte aber noch verhindert werden.

Jedenfalls kam es in keiner Weise zu der in der Öffentlichkeit breit diskutierten Finanzmarktregulierung; wesentliche Teile des Finanzkapitals haben daran einfach kein Interesse, und sie bestimmen, unabhängig von den bürgerlichen Phrasen über Demokratie und Freiheit, letztlich die Politik. Ganz entsprechend den Wünschen des Großkapitals wurde die Politik des Neoliberalismus fort-gesetzt und immer offensichtlicher zu einer Diktatur der (Finanz-) Märkte. Mit ihren Rating-Agenturen und Spekulationen gegen Länder und Währungen treiben die Finanzkapitalist/inn/en die Regierungen vor sich her. Sie erzwingen, dass ihre spekulativen Anlagen aus Steuermitteln garantiert werden, während der Masse der Bevölkerung in diversen Ländern ein Sparpaket nach dem anderen auf den Rücken geladen wird. Auch die Angst vor einer Panik auf den Finanzmärkten ist eine Waffe in den Händen der Kapitalist/inn/en, mit der sie ihre Interessen durchsetzen und Staaten reihenweise erpressen.

Besonders krisengeschüttelt war zuletzt die EU. Das liegt weniger daran, dass es in der EU geringere Konjunkturprogramme zur Ankurbelung der Wirtschaft gegeben hat, sondern vor allem an der fehlenden politischen Einheit. Die EU ist eben weiterhin ein (Schönwetter-) Staatenbund und kein Bundesstaat. Es dominieren noch immer sehr stark nationalstaatliche Interessen, die von verschiedenen Kapitalgruppen gekonnt gegeneinander ausgespielt werden. Kalifornien etwa war deutlich stärker verschuldet als Griechenland, ist aber dennoch nicht Ziel von feindlichen Spekulationen, weil klar ist, dass Kalifornien Teil des US-Staates ist und dessen eindeutige Rückendeckung hat. Die europäischen Staaten aber sind, auch über den Sonderfall Großbritannien hinaus, nicht gemeinsam handlungsfähig; es gibt keine EU-Regierung, sondern eine Reihe von brüchigen Deals zwischen den (wesentlichen) Staaten.

In der Folge hat sich die ökonomische und politische Krise in der EU im letzten Jahr immer weiter vertieft. Sogar die Einheitswährung und letztlich das Projekt einer kapitalistischen europäischen Integration in ihren bisherigen Formen stehen auf dem Spiel. Angesichts der Krise, der immer offensichtlicheren Diktatur der Finanzmärkte und der immer systematischeren Angriffe auf den Lebensstandard der Lohnabhängigen erweist sich die Versprechung eines sozialen und demokra-tischen vereinten Europa auf kapitalistischer Grundlage als Illusion. Seit 2011 haben sich die Fließrichtungen der Kapitalströme erstmals wieder umgedreht, nämlich nun wieder von der ökonomischen Peripherie zurück in die reichsten Länder, so etwa von den europäischen Randgebieten in die wirtschaftlichen Zentren der EU. Solche protektionistischen Tendenzen zeigen, dass die nebulosen „Märkte", also die Großkapitalist/inn/en, immer weniger Vertrauen in den Erfolg des EU-Projektes in der bisherigen Form haben.

Wie weiter mit der Krise?

Die meisten bürgerlichen Ökonom/inn/en gehen von einer deutlichen Konjunktur-abschwächung aus – und hoffen, dass es dabei bleibt. Bei all diesen bürgerlichen „Expert/inn/en" ist natürlich immer das Problem, dass immer sehr unklar ist, in welchem Ausmaß die Interessen ihrer Auftraggeber/innen, etwa von Regierungen nach Beruhigung oder von Finanzfirmen zur Durchsetzung bestimmter Maß-nahmen, in ihren Analysen zum Ausdruck kommen. Angesichts dessen, dass die wirtschaftlichen Probleme, die die Krise ausgelöst haben, weiter bestehen und neue dazu gekommen sind, ist es durchaus möglich, dass die Dynamik über eine Konjunkturabschwächung hinaus geht und stattdessen ein drastischer Einbruch stattfindet.

Die Lage auf den Finanzmärkten ist längst so, dass es kaum mehr gegenseitiges Vertrauen gibt und sich die Banken nur sehr zögernd gegenseitig Geld leihen (weil sie wissen, dass sehr viele von ihnen jede Menge Leichen im Keller haben, nämlich in Form von faulen Krediten). Der Bankrott der einen oder anderen relevanten Bank oder auch von Staaten ist jederzeit möglich. Und dann besteht erneut die Gefahr einer Kettenreaktion und dass die Finanzmärkte noch stärker als 2008 außer Kontrolle geraten. Wenn auf diesen Märkten und in der Folge in den ökonomischen und politischen Institutionen dann einmal Panik ausbricht, kann das in eine tödliche Dynamik nach unten münden. Bei einem wirklichen Crash auf den Finanzmärkten würden auch all die Banken-Rettungsschirme aus Steuermitteln nicht ausreichen. Der Kapitalismus ist eben ein zutiefst chaotisches und krisenhaftes System.

In den EU-Regierungen scheint es vor jedem neuen Krisengipfel bereits zuletzt immer wieder panikartige Stimmungen gegeben zu haben, etwa im öster-reichischen Finanzministerium, wo angeblich immer wieder weitgehend Orien-tierungslosigkeit herrscht; Kanzler Werner Faymann soll anfänglich gegen die jetzige „Schuldenbremse" gewesen sein, soll seine Meinung aber dann nach einem längeren Telefonat mit Josef Ackermann von der Deutschen Bank um 180 Grad geändert haben. Jedenfalls sollte man nicht glauben, dass die kapitalistischen Regierungen die ganze Sache im Griff haben.

Blockkonflikte und EU-Perspektive

Bei einer Krisenvertiefung und erst recht, wenn die Finanzmärkte außer Kontrolle geraten, ist eine massive Verstärkung des Protektionismus möglich bis wahr-scheinlich. Angesichts der Krise der EU und dem nicht ausreichenden Gewicht von China oder Japan kann es den USA durchaus gelingen, ihre Rolle als vorherrschende imperialistische Macht auf absehbare Zeit zu behaupten. Darüber, wie weit die US-Rating-Agenturen nicht nur die allgemeinen Interessen des inter-nationalen Finanzkapitals zur entsprechenden Zurichtung von Staaten bedienen, sondern auch spezielle Interessen von US-Kapitalgruppen gegen die europäische Konkurrenz, ist bereits viel spekuliert worden.

Das heißt aber keineswegs, dass die Hauptmächte der EU und die hinter ihnen stehenden Kapitalgruppen, ihre Projekt bereits aufgegeben hätten. Deutschland, die stärkste wirtschaftliche Macht in der EU, will das europäische Block-Projekt unbedingt retten, allerdings in teilweise veränderter Form. Wie wir bereits seit Jahren prognostiziert haben (etwa in den „Thesen zur Europäischen Union" von 2005), könnte die Entwicklung in Richtung einer EU der konzentrischen Kreise gehen: Der Kern würde etwa aus dem „deutschen Block" plus Frankreich be-stehen, das die deutsche Bourgeoisie aus politischen, historischen, militärischen und ökonomischen Gründen unbedingt dabei haben will und sich das auch etwas kosten lassen würde. Dieser Kern würde auf eine verstärkte ökonomische und politische Vereinheitlichung setzen und sich darum herum verschiedene Gruppen von Ländern halten, die in unterschiedlichem Ausmaß angedockt sind.

Gleichzeitig würde oder müsste die deutsche herrschende Klasse (in der Tradition des „Rückversicherungsvertrags" von Otto von Bismarck 1887) versuchen, das eingeleitete Bündnis mit Russland zu vertiefen, um bei einer verschärften Blockkonfrontation nicht ein drittes Mal in einem Zweifrontenkrieg zu landen (auch wenn der heute nicht unbedingt in einer direkten militärischen Aus-einandersetzung ausgetragen werden würde/müsste). Russland würden dem deutschen (und Kern-EU-) Kapitalismus auch den Zugang zu Energie und anderen Rohstoffen ermöglichen – und zwar nicht über die US-kontrollierten Seewege. Über Russland hinaus könnte ein solches strategisches eurasisches Projekt auch in Richtung einer verstärkten Kooperation mit China laufen.

Die USA hingegen haben ihre Militärpolitik zuletzt vom Nahen Osten auf die asiatisch-pazifische Region umorientiert und verstärken ihre Bündnisse mit Japan, Taiwan, den Philippinen, aber auch mit Australien und Indien. Mit einer verschärften Krise sind durchaus auch zunehmend Konflikte zwischen den Blöcken wahrscheinlich. Sie würden vorderhand sicherlich vor allem ökonomisch und politisch ausgetragen werden, aber Politik ist nach W.I. Lenin konzentrierte Ökonomie und Krieg nach Carl von Clausewitz die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln; in diesem Sinne wären dann zumindest vermehrte Stellvertreter-kriege in verschiedenen Teilen der Welt durchaus möglich.

Klassenkampf von oben

Vor uns liegt eine Periode ökonomischer, sozialer und politischer Instabilität. Das kapitalistische Profitprinzip ist unfähig, Produktion und Gesellschaft nach den Bedürfnissen der Menschen zu organisieren. Die wirtschaftliche Krise wird alle sozialen und politischen Strukturen der betroffenen Länder erschüttern. Politische Krisen werden immer mehr Länder betreffen und zu einer Reihe von Schwenks und Umwälzungen der politischen Landschaften führen. In Griechenland und Italien hat die Krise bereits zum Ende der Regierungen Papandreou beziehungs-weise Berlusconi geführt; sie wurden durch so genannte „Expertenregierungen" ersetzt, die für die offene Diktatur der Finanzmärkte stehen, deren Stabilität aber selbst äußerst fraglich ist – führt doch die diktierte Sparpolitik Griechenland immer weiter in den Abgrund, ist doch die für 2012 notwendige Refinanzierung der italienischen Staatsanleihen von nahezu 300 Mrd. Euro keine leichte Aufgabe. In vielen Ländern werden wir in den nächsten Jahren ähnliche politische Krisen sehen.

In der Logik des Kapitalismus führt die Krise zur (wertmäßigen) Vernichtung von Kapital und Produktivkräften, zur Einstellung von Produktionen und Dienst-leistungen, zur Vernachlässigung oder Zerstörung von nützlicher Infrastruktur und sozialen Systemen. So orientierungslos die herrschende Kapitalist/inn/enklasse und ihre politischen Vertreter/innen teilweise sind, so einig sind sie sich in ihrer Absicht, die Kosten für die Krise des Systems den Lohnabhängigen aller Länder aufzubürden. Um die durch Rettung von Banken und Konzernen belasteten Staatskassen wieder zu sanieren, wird nun europaweit die so genannte „Schulden-bremse" vorangetrieben – und bei Nicht-Umsetzung drohen die Rating-Agenturen mit Abwertungen. Kaschiert mit minimalen Belastungen für das Kapital oder die „Besserverdiener" handelt es sich in der Realität um einen Frontalangriff auf die Arbeiter/innen/klasse und die Sozialsysteme. Für die Bourgeoisie hat das gleich zwei positive Aspekte: einerseits die Sanierung ihrer Staaten und andererseits die Erhöhung der „Mehrwertrate", also eine intensivierte Ausbeutung der Arbeits-kraft.

Entsprechend der ökonomischen Lage der einzelnen Länder haben wir es in etwas unterschiedlichem Ausmaß, aber insgesamt mit einer Umverteilungspolitik in gigantischem Stil hin zum Großkapital zu tun. Konkret geht es um eine Sanierung der Staatsfinanzen durch Angriffe auf das Gesundheitswesen, durch Erhöhungen der Massensteuern, durch Kürzungen von Pensionen und die Anhebung des Pensionsalters, durch Kündigungen im öffentlichen Dienst, durch Lohnkürzungen vor allem von Staatsbediensteten, aber auch im privaten Sektor durch Angriffe auf die Kollektiv-/Tarifverträge. Was in Griechenland ausgetestet wird, zeigt die Richtung, in die die herrschende Klasse in diversen Ländern gehen will. Was in Europa schon drastisch zu sehen ist und zur Verelendung von immer mehr Menschen führt, hat in der so genannten „3. Welt" noch dramatischere Aus-wirkungen; die Spekulationen bei den Rohstoffen etwa führen zu Preissteigerun-gen bei Grundnahrungsmitteln und treiben weitere Millionen Menschen in den Hungertod.

Klassenkampf von unten

Die offene Kriegserklärung der herrschenden Klasse an die Lohnabhängigen wird zu einer Zunahme der sozialen Konflikte führen. Die Richtung dieser Konflikte und das Ausmaß des Klassenkampfes von unten sind freilich kein Naturgesetz, sondern von Kräfteverhältnissen in der Gesellschaft und insbesondere in der Arbeiter/innen/klasse abhängig. Sehr wahrscheinlich ist aber durchaus ein Auf-schwung des Widerstandes durch die Lohnabhängigen.

In einer Reihe von arabischen Ländern wurden autoritäre Regime durch Massen-bewegungen gestürzt, in Tunesien und Ägypten hatten daran auch Organisationen der Arbeiter/innen/bewegung relevanten Anteil. In China nimmt der Kampf der Arbeiter/innen immer breitere Formen an: 2009 gab es etwa 80.000, 2010 sogar rund 100.000 Streiks und andere Klassenkämpfe, im Frühjahr 2010 überhaupt die größte Streikwelle seit acht Jahren, nämlich in der Automobilindustrie im Perl-flussdelta. Die Kämpfe der chinesischen Proletarier/innen sind auch immer öfter besser organisiert und länger im Voraus geplant. Und im Unterschied zu offensiven Lohnkämpfen der vergangenen Jahre handelte es sich zuletzt teilweise auch um Abwehrkämpfe, da Firmen versuchen, ihre von der Krise verursachten Verluste durch Angriffe auf die Arbeiter/innen zu kompensieren.

Aber auch in Europa gab es in den letzten ein bis zwei Jahren bereits etliche relevante Klassenkämpfe, mit Mobilisierungen von Italien bis Großbritannien, von Rumänien bis zur iberischen Halbinsel, von Frankreich bis Griechenland, dem europäischen Zentrum von Krise und Klassenkampf. In Griechenland fand eine Serie von 17 Generalstreiks statt, die sich drei Mal, im Mai 2010, im Oktober 2011 und im Februar 2012, zu für die herrschende Klasse kritischen Situationen zuspitzten; aufgrund der hemmenden Politik der reformistischen linken Parteien und aufgrund der zu geringen Verankerung der revolutionären Linken in den Kernschichten der Arbeiter/innen/klasse konnten diese Situationen nicht in eine antikapitalistische Richtung entwickelt werden.

In den Ländern des „deutschen Blocks" ist der Klassenkampf aufgrund des hier wirksamen Zwischenaufschwungs der Ökonomie und des Bleigewichtes von Sozialpartnerschaft und Gewerkschaftsbürokratie in den letzten Jahren verhalten geblieben. Allerdings gab es auch in Österreich seit Herbst 2011 einen kleinen Aufschwung an Mobilisierungen, etwa im Gesundheitswesen, am Flughafen Wien und besonders den Metallerstreik. Vor allem aber ist in vielen Betrieben eine sich verändernde Stimmung spürbar, eine größere Offenheit von immer mehr Kolleg/inn/en für klassenkämpferische und antikapitalistische Ideen. Als Aus-druck dieser Stimmungen ist es, sichtbar seit dem Metallerstreik, auch zu gewissen Rissen in der Gewerkschaftsbürokratie gekommen: Manche betriebliche Funktionäre/Funktionärinnen sind nicht mehr bereit, der totalen Kapitulation der Gewerkschaftsführung gegenüber der SPÖ-ÖVP-Regierung völlig kritiklos zu folgen. Allerdings sind auch diese Betriebsräte/rätinnen in der Regel in einer reformistischen Standortlogik gefangen.

Systemreform unmöglich

Insgesamt, nicht nur in Österreich und Deutschland, bleibt die Reaktion der Arbeiter/innen/klasse bisher weit hinter dem Ausmaß der Angriffe des Kapitals zurück. Das ist nicht untypisch für eine erste Phase nach dem Beginn einer tiefen Krise und war etwa nach 1929 nicht anders. Die Arbeiter/innen/klasse steht erst einmal unter Schock und muss sich an die neue Lage gewöhnen und sich geeignete Kampfformen und -strukturen entwickeln.

Angesichts der Krise und der Frontalangriffe der herrschenden Klasse werden die reformistischen Parteien und Gewerkschaftsbürokratien vor unlösbare Probleme gestellt; es gibt einfach immer weniger Spielraum, um mit dem Kapital Zu-geständnisse auszuhandeln. Funktionieren solche Deals mit der Gegenleistung, dass die Lohnabhängigen ruhig gehalten werden, nicht mehr, verlieren die re-formistischen Bürokrat/inn/en sowohl für die Klasse als auch für Bourgeoisie ihren Wert. Auch das zeigt sich im Laboratorium Griechenland: Es ist keineswegs so, dass die Arbeiter/innen in der Krise automatisch in die vorherrschende reformistische Partei strömen. Im Gegenteil wurde die PASOK durch die Krise arg zerzaust: Mitgliederverlust, dramatischer Rückgang in den Umfragen und Mobilisierungskollaps ihrer Gewerkschaftsfraktion PASKE.

In Griechenland ist diese Entwicklung natürlich am weitesten fortgeschritten, aber in allen Ländern werden durch die Krise die Möglichkeiten für Reformen (oder die Abfederung von Konterreformen) geringer. Natürlich ist es auch mög-lich, dass in dem einen oder anderen Land sich kämpferisch gebende reformis-tische Parteien einen Zulauf haben können; das hängt von einer Reihe von Bedingungen ab. Die immer offensichtlicher werdende Unfähigkeit des Kapitalis-mus und seiner reformistischen Handlanger/innen, den Lohnabhängigen eine einigermaßen gesicherte Existenz im Rahmen des Systems zu ermöglichen, wird aber das Potenzial für antikapitalistische Kräfte deutlich erhöhen. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten wird der revolutionäre Marxismus wieder eine historische Chance bekommen, zu einer in der Arbeiter/innen/bewegung und der Gesellschaft bedeutenden Kraft zu werden.

Für Forderungen, die versuchen, die unmittelbaren Fragen des Klassenkampfes mit der Systemfrage zu verbinden (wir Trotzkist/inn/en bezeichnen sie als „Übergangsforderungen"), wird erstmals seit langem auch in den kapitalistischen Zentren wieder eine breitere Resonanz möglich sein. Eine wichtige Rolle spielt dabei aktuell die Forderung nach der Enteignung der Banken und ihrer Verstaat-lichung unter Kontrolle der Arbeiter/innen/klasse und -bewegung, um dieses Casino-Finanzsystem auf sinnvolle Dienste für die Gesellschaft zu reduzieren (was natürlich letztlich mit dem Kapitalismus nicht vereinbar sein wird). Dazu kommt die Forderung nach der Abschaffung des Geschäftsgeheimnisses der Kapitalist/inn/en, damit die Konzerne über ihre wirtschaftliche Lage nicht mehr irgendetwas erzählen und nicht mehr ihre Profite abziehen können. Angesichts der Preissteigerungen verlangen wir eine „gleitende Lohnskala", also die automa-tische Anpassung der Löhne an die Inflation, und insbesondere dort, wo Kündi-gungen und Arbeitslosigkeit zunehmen, auch eine „gleitende Arbeitszeitskala", also die Aufteilung der vorhandenen Arbeit auf alle und entsprechende Arbeits-zeitverkürzungen.

Solche Forderungen werden nicht von den bestehenden Organisationsstrukturen der Arbeiter/innen/bewegung umgesetzt werden. Dazu braucht die Arbeiter/innen-/klasse neue Strukturen, etwa Streikkomitees, betriebliche Selbstorganisation und Formationen zur Verteidigung der Kämpfe gegen Staat, Werkschutz und/oder Faschist/inn/en. Und insbesondere ist eine revolutionäre Arbeiter/innen/organisa-tion notwendig, in der die politisch bewusstesten und engagiertesten Aktivist-/inn/en zusammengefasst sind, die die verschiedenen Kämpfe koordinieren und ihnen eine weitergehende Perspektive geben kann. Das Fehlen einer solchen Organisation wird heute bereits in Griechenland schmerzlich deutlich, wo Hunderttausende Lohnabhängige in ihren Kämpfen alles geben, aber keine positive, sozialistische Alternative zum Diktat von EU und IWF finden.

Dass die Arbeiter/innen/klasse eine revolutionäre Organisation braucht und der revolutionäre Marxismus in der nächsten Periode eine historische Chance vor-finden wird, heißt keineswegs, dass sich die Realisierung dieser Dinge wie ein Naturgesetz vollzieht. Ganz im Gegenteil wird das von der Politik der Organisa-tionen mit antikapitalistischem, revolutionärem Anspruch abhängen. Auch sie müssen sich erst an die neue Lage gewöhnen, auch bei ihnen gibt es oft einen gewissen Konservativismus, viele von ihnen sind (nach Ländern in unterschied-lichem Ausmaß) von der Arbeiter/innen/klasse isoliert. Erfolg werden nur die Organisationen haben können, die eine systematische Politik in der Arbeiter-/innen/klasse entwickeln und sich vor allem in den Großbetrieben verankern. Darüber hinaus brauchen sie ein festes marxistisches Fundament und eine Er-kenntnis der veränderten Lage.

 

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