Marxismus-Buchreihe Nr. 30, Wien 2009, 316 Seiten A5, 11 Euro, ISBN 3-901831-26-6
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Editorial
Witzchen über die angebliche Spaltungswut der TrotzkistInnen gibt es einige. Sie haben ihren Ursprung in der stalinistischen Propaganda der 1920er und 1930er Jahre, als der Stalinismus mit mörderischem Monolithismus glänzte. In den letzten Jahrzehnten, als der Stalinismus selbst in unzählige Strömungen zerbröckelte und etwa in Deutschland zahllose (mao-) stalinistische „Parteien" bestanden, wurde der Stalinismus in dieser Angelegenheit etwas schüchterner. Reproduziert werden die Witzchen nun vor allem von diversen „undogmatischen" Linken, die damit vor allem ihre eigene Ablehnung von revolutionärem Organisationsaufbau zum Ausdruck bringen.
Tatsächlich ist die Zersplitterung des „Trotzkismus" nicht in erster Linie – wie das gerne dargestellt wird – Ausdruck von persönlichen Eitelkeiten, Spitzfindigkeiten und Sektierertum. Das sind zweitrangige Phänomene. In erster Linie ist diese Zersplitterung die Folge einer gesellschaftlichen Isolation. Dabei waren trotzkistische Strömungen vor dem Zweiten Weltkrieg in einigen Ländern (etwa in Griechenland oder Vietnam) durchaus zentrale Bestandteile der ArbeiterInnenbewegung. Allerdings haben die Niederlagen von revolutionären Entwicklungen, das Prestige der Sowjetunion, das den nationalen KPen zu Gute kam, stalinistische Repressalien und schließlich der lange Boom des Kapitalismus die TrotzistInnen und andere radikale Kräfte in den meisten Ländern an den Rand der Gesellschaft gedrängt.
Seit dem Bestehen der ArbeiterInnenbewegung hat relative kapitalistische Stabilität immer zu einer Zersplitterung der revolutionären Kräfte geführt. Die politischen Möglichkeiten der RevolutionärInnen sind dann beschränkt, verschiedene Ausrichtungen können kaum in der Praxis überprüft werden, es kommt zu einer Innenwendung, zur Austragung von Konflikten im luftleeren Raum und zu Spaltungen, die in der breiteren ArbeiterInnenbewegung nur teilweise nachvollziehbar sind. Solche Erscheinungen sind unvermeidbar, in der Geschichte der revolutionären Bewegung (bis hin zur vorrevolutionären russischen Sozialdemokratie) gerade zu normal und erschrecken uns nicht weiter.
Umgekehrt führen Aufschwünge im Klassenkampf auch zu Rückenwind für revolutionäre Kräfte. Das galt für die Welle von Rebellionen und Klassenkämpfen vom Ende der 1960er bis zur Mitte der 1970er Jahre, und das Potenzial dafür hat sicherlich auch die gegenwärtige Krise des Kapitalismus. Radikalisierungen und Massenbewegungen sind für Organisationen mit revolutionärem Anspruch ein entscheiden- der Test. Im Wesentlichen sind drei unterschiedliche Reaktionen möglich: Erstens kann eine Organisation in den Zeiten der Isolation politisch dermaßen verknöchert sein, dass sie überhaupt nicht mehr in der Lage ist, sich in Kämpfe und Bewegungen sinnvoll einzubringen. Zweitens kann sich eine Organisation aus Angst vor Isolation dermaßen an reformistische Konzepte angepasst haben, dass sie angesichts von Radikalisierungen eine zurückzerrende und letztlich reaktionäre Rolle spielt. Drittens werden Organisationen, befruchtet von den Erfahrungen der Massenbewegungen, ihr revolutionäres Profil schärfen und ihre Interventionsfähigkeit ausweiten können.
In jedem Fall wird es unter den Strömungen mit revolutionärem Anspruch einen Pro- zess von Spaltungen und Fusionen geben. In unseren Grundsätzen haben wir dazu folgendes formuliert:
„Eine neue revolutionäre Internationale wird nicht linear aus einer der bestehenden Organisationen mit revolutionärem Anspruch entstehen. Keine dieser Organisationen kann legitimerweise behaupten, dass nur sie ‚wirklich revolutionär' ist. Mit allen größeren subjektiv revolutionären internationalen Strömungen haben wir freilich so relevante Differenzen, dass wir uns nicht auf einer ernsthaften politischen Grundlage anschließen könnten. Wir wollen unsere Differenzen mit anderen Organisationen nicht verwischen oder totschweigen, aber wir wissen auch, dass wir von GenossInnen mit revolutionärem Anspruch in anderen Ländern/Kontinenten auch viele Dinge lernen können.
Wir sehen uns als Teil des Spektrums von subjektiven RevolutionärInnen, die nach bestem Wissen und Gewissen versuchen, eine revolutionäre Organisation zum Sturz der kapitalistischen Klassenherrschaft aufzubauen. Wir sind überzeugt, dass eine neue revolutionäre Internationale nur durch einen Umgruppierungsprozess in diesem Spektrum entstehen kann. In diesen zukünftigen Prozess wollen wir mit einer politisch, organisatorisch und numerisch möglichst starken Organisation eintreten und für unsere Positionen kämpfen. Neue revolutionäre Massenparteien werden sich um bedeutende Klassenkampfereignisse entwickeln. Entlang von ihnen und ihrer theoretischen Verarbeitung wird es nicht nur zu einer Stärkung, sondern auch zu einer Neuzusammensetzung der revolutionären Kräfte kommen. Dabei werden sich die Erfahrungen und AktivistInnen von verschärften Klassenkämpfen, die Theorieentwicklung, die Intervention der revolutionären Organisationen und ihre Internationalisierung gegenseitig beeinflussen."
Wir haben nicht den irrwitzigen Anspruch, dass nur wir in allen Fragen immer Recht haben werden. Wir sehen etwa explizit unsere Grundsätze als „Ansatzpunkt für eine Diskussion zur Neuformierung von revolutionären Kräften". Neue Erfahrungen können Korrekturen notwendig machen. Gleichzeitig sind wir aber – bis durch neue Erfahrungen oder gute Argumente das Gegenteil bewiesen ist – natürlich auch davon überzeugt, dass unsere Positionen richtig sind. Und wir halten es auch für notwendig, diese Positionen zu verteidigen – in manchen Fällen auch in Abgrenzung zu anderen Strömungen.
Wir legen hier eine Auseinandersetzung mit der britischen Militant-Tendenz und ihren Nachfolgeorganisationen vor. Das sind einerseits das CWI (Committee for a Workers International) mit der SAV (Sozialistische Alternative) in Deutschland und der SLP (Sozialistische LinksPartei) in Österreich sowie andererseits die IMT (In- ternational Marxist Tendency) mit den Funke-Gruppen in Österreich, Deutschland und der Schweiz.
Dass wir einen Text der Kritik anderer Strömungen mit trotzkistischem Anspruch widmen, ist für uns eher die Ausnahme. Wir halten es nicht für sinnvoll, in jeden zweiten Artikel irgendwelche Kritikpunkte an anderen Organisationen mit trotzkistischem Anspruch einzubauen oder ständig Polemiken zu veröffentlichen. Solche Dispute sind für Außenstehende kaum nachvollziehbar, werden oft (und in manchen Fällen zu Recht) als „Pisserei" wahrgenommen und reproduzieren die Klischees vom Hickhack in der radikalen Linken. In der aktuellen „Tagespolitik" publizieren wir Kritiken an anderen Gruppierungen nur dann, wenn sie in einer Bewegung oder einer wichtigen Frage eine (aus unserer Sicht) katastrophale Position einnehmen, die auch von einer breiteren Linken / ArbeiterInnenbewegung wahrgenommen wird und die Kritik deshalb nachvollziehbar ist. Ein Beispiel dafür wäre etwa die IMT-Politik zu Venezuela, zu der wir uns schon in der Vergangenheit geäußert haben.
Wir haben aber inhaltlich klare und oft grundlegende Kritik an anderen Strömungen, die wir hier einmal für Militant/CWI/IMT vorlegen. Wir haben diese Organisationen nicht deshalb ausgesucht, weil wir ihre politischen Positionen besonders falsch finden; die SAV in Deutschland ist unter den Strömungen mit trotzkistischem Anspruch sicherlich nicht diejenige, die uns am fernsten steht. Der Grund für die Auswahl ist vielmehr, dass in Deutschland die SAV und in Österreich SLP und Funke zu den „trotzkistischen" Strömungen mit dem größten Gewicht in der Linken gehören. Wir denken, dass es sinnvoll ist, gegenüber an revolutionärer Organisierung Interessierten die politischen Unterschiede zwischen uns und diesen Organisationen deutlich zu machen – und zwar in Form einer grundlegenden und sachlichen Auseinandersetzung.
Eigene Positionen in Abgrenzung zu anderen Konzepten darzustellen, hat in der revolutionären Bewegung eine lange Tradition. Das reicht von Engels ́ Antidühring über Lenins Der linke Radikalismus bis zu Trotzkis Verteidigung des Marxismus. Auch CWI und IMT haben immer wieder Kritiken an anderen Strömungen mit trotzkistischem Anspruch publiziert, etwa die SAV gegenüber Linksruck oder die IMT gegenüber lateinamerikanischen Organisationen. Solche Debatten können, wenn sie seriös geführt werden, zur politischen Klärung beitragen.
Wie sich in der vorliegenden Arbeit zeigt, finden wir die Positionen von Militant und seinen Nachfolgeorganisationen in etlichen wichtigen Fragen grundlegend falsch. Das betrifft etwa das Verständnis von der Entwicklung von Klassenbewusstsein, die Haltung zu den so genannten „traditionellen Massenorganisationen" der ArbeiterInnenklasse, die Herangehensweise an den Reformismus, die Positionen zu Staat und Revolution, die Art und Weise des Organisationsaufbaus und eine Reihe damit zusammenhängender Fragen. Wir haben für die vorliegende Arbeit eine historische Vorgangsweise gewählt, denn auch aktuelle Zugänge und Taktiken speisen sich aus der Tradition, sowohl analytisch als auch praktisch; bei CWI und IMT wird das ganz besonders deutlich.
Dass wir mit CWI und IMT Differenzen haben (und äußern), schließt keineswegs Kooperationen aus, wo das politisch sinnvoll ist. Wir betrachten die vorliegende Arbeit als eine sachliche und solidarische Kritik innerhalb der Linken mit trotzkistischem Anspruch. Das Ziel ist das Vorwärtsbringen der revolutionären Linken durch die Schärfung der programmatischen Klarheit und der richtigen taktischen Ausrichtung. Und schließlich werden in der vorliegenden Arbeit auch viele grundlegende Fragen des Marxismus aus unserer Sicht herausgearbeitet.
Inhalt
Editorial
1. Die Anfänge der Militant-Tendenz
2. Probleme des Entrismus
3. Aufstieg zu einer eigenständigen internationalen Tendenz
4. Massenorganisationen und Klassenbewusstsein
4a. Exkurs: Krisentheorie bei Militant
5. Wachsender Einfluss und politische Anpassung
6. Staat und Parlamentarismus
7. Der „Great Miner ́s Strike", Liverpool und das Versagen von Militant
8. Verpasste Chancen in Liverpool und den LPYS
9. Die Poll-Tax-Bewegung
10. Die Spaltung von Militant und CWI
11. Die Neupositionierung des CWI
12. CWI in der Krise
13. CWI aktuell
14. Entstehung und Entwicklung der IMT
15. „Molekularprozess" und Dauerentrismus à la IMT
16. IMT-Anpassung an den Chavismus und die Frage des Staates