Nationale Frage und marxistische Theorie - Teil 2: Die sowjetische Erfahrung

 

Marxismus-Buchreihe Nr. 24, Wien 2004, 646 Seiten, 24 Euro, ISBN 3-901831-20-7

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Editorial

Die letzten zwanzig Jahre waren weltweit von einem Wiederaufleben nationaler, ethnischer und kultureller Konflikte begleitet. Trotz Globalisierung und Internet und entgegen der Erwartungen auch „linker" Modernisierungs-theoretiker/innen war das imperialistische Weltsystem nicht in der Lage, die Konflikte zwischen den Großmächten auszugleichen und den „verspäteten" Nationen und ethnischen Gruppen durch kapitalistische Entwicklung einen Ausweg aus Armut und Rückständigkeit zu ermöglichen.

Die sogenannten nationalen Befreiungsbewegungen scheiterten an letzterem Anspruch. Die Folgen dieser ungleichen und kombinierten Entwicklung, wie Leo Trotzki das globale kapitalistische System beschrieb, waren auf der politisch-ideologischen Ebene vielerorts eine Flucht in die jeweiligen vorkapitalistischen ethnisch-kulturellen Traditionen, beispielsweise in den Islamismus oder den Hindu-Chauvinismus. Aber auch die Stärkung von nationalistischen und migrant/inn/en-feindlichen Ressentiments in Westeuropa oder der aggressive Patriotismus in den USA zeigen, dass der Kapitalismus neben der Tendenz zur weltweiten wirtschaftlichen Integration immer wieder nationalen Partikularismus und nationalistischen Hass reproduziert.

Auch die Sowjetunion war nicht zu einer Überwindung der nationalen Feindschaften in der Lage. Vielmehr haben nationale Konflikte wesentlich zu ihrem Zusammenbruch beigetragen. Während Marxist/inn/en heute auf die Bekämpfung einer sich auf den Nationalismus stützenden herrschenden Ordnung zurückgeworfen sind, war die frühe Sowjetunion auch von dem Bemühen von Revolutionär/inn/en geprägt, als regierende Macht, die sich auf eine proletarische Revolution stützte, nationale Gegensätze zu überwinden. Auch wenn diese Versuche schließlich von der Bürokratisierung erstickt wurden, so ist es für eine marxistische Positionierung zur nationalen Frage dennoch unerlässlich, sich mit diesem ersten und gleichzeitig riesigen proletarisch-revolutionären „Feldversuch" zur Lösung dieser Frage eingehend zu beschäftigen.

Nach unserem ersten Band zum Thema Nationale Frage und marxistische Theorie, der sich mit den Positionsentwicklungen der marxistischen „Klassiker" beschäftigte, legen wir deshalb hier einen zweiten Band vor, der sich mit der sowjetischen Erfahrung auseinandersetzt, mit all ihren positiven Ansätzen, Problemen, Fehlern und schlussendlich ihrem bürokratischen Scheitern. Dieser Marxismus-Band ist mit 640 Seiten der bisher umfangreichste, und er besteht aus drei großen Teilen.

Der erste Teil behandelt die Zeit von der Oktoberrevolution bis zur Gründung der UdSSR Ende 1922. Untersucht wird die Konkretisierung der Politik der Selbstbestimmung bis hin zur Lostrennung in den ersten Jahren der Sowjet-macht, die durch jahrelange imperialistische Interventionen und Bürgerkriege erschwert wurde. Diese ersten Erfahrungen, die auch durch Unsicherheiten und Fehler geprägt waren, werden von Manfred Scharinger nicht nur in ihren allgemeinen Zügen aufgearbeitet, sondern auch anhand von Beispielen, besonders anhand der Ukraine und des Kaukasus, aber auch anhand des Baltikums, Zentralasiens und Sibiriens.

Der zweite Teil beschäftigt sich mit der sowjetischen Nationalitätenpolitik von der Gründung der UdSSR bis zum Beginn der 1930er Jahre. Es geht dabei um den Konflikt zwischen W.I. Lenin und Josef Stalin in der georgischen Frage ebenso wie um die sogenannte Korenisazija ab 1923, die „Verwurzelung" der Sowjetmacht in den verschiedenen nichtrussischen Nationen. Es wird gezeigt, dass diese Linie zwar gewisse Erfolge brachte, aber gleichzeitig immer stärker von der Bürokratisierung von Staat und Partei überlagert wurde. Behandelt werden auch Stalins Entdeckung von sozialistischen Nationen und die auch immer wieder kritikwürdigen Positionierungen von Trotzki und der Opposition.

Der dritte Teil beschreibt zuerst das Ende der Korenisazija 1934 und die Wende der stalinistischen Bürokratie hin zum russischen Nationalismus 1937/38, der schließlich im Großen Vaterländischen Krieg und danach seinen Höhepunkt erlebt. Eingegangen wird auch auf Trotzkis Einschätzungen der nationalen Frage in der bürokratisierten Sowjetunion, besonders auf seine Forderung nach einer unabhängigen Sowjetukraine 1939. Abschließend gibt Scharinger einen Überblick über die sowjetische Nationalitätenpolitik von Nikita Chruschtschow über Leonid Breschnew bis hin zu Michail Gorbatschow und dem Auseinanderfallen der Sowjetunion.

Mit dem vorliegenden zweiten Band ist der theoretische Arbeitsschwerpunkt der AGM zum Thema Nationale Frage und marxistische Theorie aber noch nicht abgeschlossen. An einigen weiteren Aspekten wird gearbeitet. Die eine oder andere Veröffentlichung wird daraus noch hervorgehen.

 

 

Inhalt

Nationale Frage und marxistische Theorie Teil 2: Die sowjetische Erfahrung (Manfred Scharinger)

I Von der Revolution 1917 bis zur Gründung der UdSSR

Russland 1917

Nationale Frage und permanente Revolution

„Eine prinzipielle Verteidigung der imperialistischen ‚Demokratie'"

7. Gesamtrussische Konferenz („Aprilkonferenz") der SdAPR(B)

„Recht auf freie Lostrennung"

Eine neue Diskussion: „Autonomie" oder „Föderation"?

Oktoberrevolution 1917

Das Nationalitäten-Volkskommissariat

Erste Dekrete und der Übergang zur Sowjetföderation

„Selbstbestimmung bis zur Lostrennung" in der Praxis

Föderalisierung nach innen und neue Verfassung

Lenins und Stalins Interpretation des Sowjetföderalismus

1918: Bürgerkrieg und nationale Frage

Militär und Ökonomie als Vorreiter der Föderation

Sowjet-Baltikum: Unabhängigkeit oder Autonomie?

Stimulation des Nationalbewusstseins: Weißrussland

1917/1919: Die ukrainische Frage

Die KP der Ukraine – eine umstrittene Gründung

Das Scheitern der Regierung Rakowski

März 1919: VIII. Parteitag, Parteiprogramm und nationale Frage

VIII. Parteitag: Diskussion um das Selbstbestimmungsrecht

Lenins Verteidigung der staatlichen Selbstbestimmung

Der Stellenwert der Parteitagsdiskussion

Föderativer Staat und zentralistische Partei

Das „ABC des Kommunismus"

Ende 1919: Wende in der Ukraine-Politik

1920: Krieg mit Polen

Eine neue Periode der Föderalisierung Russlands

Die Republik des Fernen Ostens

„Aus dem Osten kommt das Licht"

November 1919: II. Kongress der Kommunisten der Ostvölker

II. Weltkongress der Komintern (Juli/August 1920)

1921: Nationale Frage und „Neue Ökonomische Politik"

Der X. Parteitag der KPR(B) (März 1921)

Die Neufassung der Thesen am X. Parteitag

Differenzen am Parteitag und Intervention der KP Turkestans

Tschitscherins „Tendenz zum Ultraimperialismus"

1921/1922: Praktische Fragen im Vordergrund

Das schwere Erbe Transkaukasiens .

Die kurze Geschichte der Transkaukasischen Föderation

1917/1921: Armenien, Aserbaidschan und Georgien

Das menschewistische Georgien

Trotzki: Grundfragen der Revolution am Beispiel Georgiens

„Zwischen Imperialismus und Revolution"

„Mehr Milde, Vorsicht, Nachgiebigkeit"

Transkaukasien am Weg zur Föderation

II Von der Gründung der UdSSR bis

zum Beginn der 1930er Jahre

Von der Vertragsföderation zur Vereinigung der Republiken

1922: Autonomisierung oder Föderalisierung?

Lenins Position zum Autonomisierungsplan

Unionsrepubliken versus Autonome Republiken?

„UdSSR", „RSFSR" oder „UdSSR Asiens und Europas"?

„Es scheint, ich habe mich sehr schuldig gemacht" (Lenin)

Vorbereitung des XII. Parteitags (1923)

Die Thesen des XII. Parteitags

Differenzen am XII. Parteitag

Rakowskis Kampf gegen Chauvinismus und Bürokratie

„Zuviel Vorsicht in der nationalen Frage schadet nichts!" (Trotzki)

„Ich möchte nicht meinen Lehrer, den Genossen Lenin, zitieren"

Juni 1923: Die ‚Vierte Beratung' und der ‚Fall Sultan-Galijew'

Tatarstan und Baschkirien in den ersten Jahren der Sowjetmacht

Muslimische „proletarische Nationen"?

Bundesstaat oder Staatenbund?

1923: Beginn der „Korenisazija"

Regionalisierung und/oder Nationalisierung?

Kolonisierungs- und Migrationspolitik

Wandel in der nationalen Politik – am Beispiel der Roma

Bolschewismus und nationaler Widerstand in Zentralasien

Exkurs: Bolschewismus und Scharia

Die Frage einer muslimischen KP in Turkestan

„Markscheidung" in Zentralasien

Ein autonomes Moldawien als Beispiel für den Balkan

Die 11 Punkte der ‚Vereinigten Opposition' (1927)

Stalins Entdeckung der sozialistischen Nationen

Widersprüche der Nationalisierung

„Verschärfung des Klassenkampfes" und Ende der Korenisazija

III Von den 1930er Jahren bis zum Zerfall der Sowjetunion

1934: Das Ende der „Korenisazija"

Eine „einmütige Familie von Völkern"?

1937/1938: Wende zum russischen Nationalismus

Trotzki, die nationale Frage und der Stalinismus

Trotzki: „Lang lebe die unabhängige Sowjetukraine!"

Nationale Selbstbestimmung und Verteidigung der UdSSR

Nationale Frage und „Großer Vaterländischer Krieg"

Deportationen

Stalinistischer Antisemitismus?

Nationale Frage nach 1945

Von Chruschtschow zu Breschnew

Gorbatschows Nationalitätenpolitik auf der schiefen Ebene

IV Anhänge

Dokumente

Programm der Partei [Ausschnitt] (März 1919)

Resolution zur nationalen Frage (April 1917)

Über die nächsten Aufgaben der Partei in der nationalen Frage

(März 1921)

Die nationalen Momente im Partei- und Staatsaufbau (April 1923)

Resolution zum Bericht des Zentralkomitees [Ausschnitt] (Juli 1930)

Statistiken und Zusammenstellungen

Bevölkerungszahlen der Unionsrepubliken

Nationalitäten in der Sowjetunion

Völkerschaften der UdSSR

Slawische Völker der UdSSR

Turkvölker

Mehrheitlich islamische Völker

Autonome Republiken der Russischen Föderation .

Staatsgründungen während des Bürgerkriegs 1917-1921

Anhang

Verzeichnis der zitierten Literatur

Abkürzungen

Personenverzeichnis