Die September-/Oktoberstreiks 1950 waren in gewisser Weise der Endpunkt der relativ instabilen Nachkriegsphase. Ab den frühen 1950er Jahren begannen eine Stabilisierung des Kapitalismus und das so genannte „Wirtschaftswunder", also hohe Wachstumsraten bis Mitte/Ende der 1960er Jahre. All das begünstigte natürlich die Integration der Arbeiter/innen/klasse und besonders der Arbeiter/innen/bewegung ins System; die sozialdemokratische Bürokratie konnte den Lohnabhängigen das Konzept, dass durch „vernünftige" Zurückhaltung, Kompromisse mit dem Kapital und Vertrauen in die Verhandlungen der „Sozialpartner" letztlich alle etwas davon haben würden, immer mehr als realistisch verkaufen.
Deshalb war aber der grundlegende Klassenwiderspruch der kapitalistischen Gesellschaft keineswegs verschwunden. Dementsprechend kam es auch in der Zeit des von den Herrschenden und ihren sozialdemokratischen Helfer/innen bejubelten „Wirtschaftswunders" immer wieder zu Klassenkonflikten, etwa zu kleineren Streiks. Immer wieder geriet die Gewerkschaftsbürokratie unter Druck ihrer Basis in den Betrieben. Immer wieder musste die Sozialdemokratie proletarischen Un-mut irgendwie in den Griff bekommen. In einigen Fällen wurde auch deutlich, dass in relevanten Teilen der Arbeiter/innen/klasse noch kämpferischere Strömungen vorhanden waren. Das wurde etwa auf einer Konferenz der „sozialistischen" (so die damalige Bezeichnung der Sozialdemokratie) Betriebsratsobmänner-/frauen von Wien und Niederösterreich am 28. Juni 1954 deutlich.
Trotz des Wirtschaftsaufschwungs Anfang der 1950er Jahre, von dem nun auch die Arbeiter/innen etwas profitierten, gab es im Frühjahr 1954 10-prozentige Preissteigerungen, mit denen die Löhne nicht mitgehalten hatten. In der Folge war es zu Unzufriedenheit in der Arbeiter/innen/schaft und in einigen Betrieben zu Warnstreiks gekommen. In Betriebsversammlungen und Resolutionen waren von der Gewerkschaftsführung ernste Kampfmaßnahmen gefordert worden. Am 21. Juni hatte dann in Salzburg ein Generalstreik, der von einer Demonstration von 15.000 Arbeiter/inne/n begleitet war, stattgefunden, und auch in anderen Orten außerhalb Wiens war es zu Protestkundgebungen gekommen.
Das sozialdemokratische Parteiorgan „Arbeiter-Zeitung" schwieg die Salzburger Ereignisse tot, um nicht durch eine Berichterstattung zur Nachahmung anzuregen. Generell versuchte die SPÖ-Führung die Unruhe zu bremsen – auch weil sie mit der ÖVP gerade in Verhandlungen um einige Gesetzesänderungen (Rentenreform, Wohnbaugesetz...) stand, die nicht gestört werden sollten: „Obwohl das Abbremsen von Bewegungen in den Massen zur wichtigsten politischen Aktivität der SP-Bürokraten zählt, so hatten sie diesmal noch einen ganz besonderen Grund dazu. Sie standen in den letzten Wochen mitten in einer wichtigen Packelei mit der ÖVP."31
Um der in vielen Betrieben angesichts der Reallohnverluste aufgestellten Forderung nach einer Betriebsrätekonferenz den Wind aus den Segeln zu nehmen und bei der Gelegenheit über die angeblichen Erfolge bei den Verhandlungen berichten zu können, wurde für 28. Juni eine Konferenz der sozialistischen Betriebsratsobmänner/frauen (also einer relativ ausgewählten Funktionärsgruppe) von Wien und Niederösterreich festgesetzt.
Doch aus der geplanten Jubelkonferenz wurde nichts. Der Vorsitzende Johann Böhm erteilte zwar sofort – ohne, wie üblich, über die Tagesordnung abstimmen zu lassen – Franz Olah das Wort. Dieser verbreiterte sich über den „Verhandlungserfolg" und streifte die die Betriebsräte/innen am meisten interessierende Frage der Preiserhöhungen nur am Rande. Als erster Debattenredner meldete sich jedoch Ferdinand Dworak, seines Zeichens Betriebsratsobmann bei Hübner & Mayer und führender Aktivist der gerade wiedervereinigten IKÖ32, und verlangte entschlossene Maßnahmen gegen die Preistreiberei.
Er stellte den – aus taktischen Gründen relativ bescheidenen – Antrag, am 2. Juli einen landesweiten einstündigen Warnstreik durchzuführen. Damit hatte er den anderen Betriebsrät/inn/en das Stichwort gegeben, um ihrer Unzufriedenheit mit der Führung freien Lauf zu lassen. Fast alle Debattenredner/innen, darunter einige weitere IKÖ-Mitglieder, unterstützten den Antrag, kritisierten gleichzeitig (teil-weise mit ziemlich heftigen Ausdrücken) die am Podium und in den ersten Reihen sitzenden Führer der SP-Gewerkschaftsfraktion – und wurden dabei durch tosenden Beifall der Konferenz unterstützt.
Ein Betriebsrat von Siemens-Schuckert, der – entsprechend der bürokratischen Konferenzregie – vorschlug, dem Verhandlungskomitee, in dessen Namen Olah seinen Bericht gegeben hatte, den Dank auszusprechen, wurde von der überwiegenden Mehrheit der Konferenz ausgebuht. Damit war der von der Bürokratie geplante Höhepunkt der Konferenz vom Tisch. Weitere Redner/innen unterstützten Dworak, und schließlich wurden der Antrag auf Schluss der Debatte und sofortige Abstimmung von Dworaks Antrag angenommen.
Die SP-Gewerkschaftsführung setzte nun noch stärker auf bürokratische Kniffe. Böhm ignorierte den Beschluss der Konferenz nach sofortiger Abstimmung und erteilte Olah das Schlusswort. Dieser stellte nun selbst einen Antrag: Der ÖGB solle ermächtigt werden, die Rücknahme der Preiserhöhungen zu verlangen und gegebenenfalls „gewerkschaftliche Maßnahmen zu ergreifen". Der Zweck, mit unverbindlichen Phrasen den Antrag über konkrete Kampfmaßnahmen zu einem festgesetzten Termin zu unterlaufen, wurde jedoch von der Konferenz durchschaut, und etliche Betriebsräte riefen Olah zu, er solle einen konkreten Termin nennen. Das wies Olah zurück, da dadurch die Handlungsfreiheit der Führung beeinträchtigt werde.
Böhm ließ dann (unter heftigem Protest eines großen Teils der Konferenzteilnehmer/innen) den Antrag Olahs zuerst abstimmen – und zwar durch Händeheben. Ob-wohl klar ersichtlich eine deutliche Mehrheit gegen den Antrag Olahs stimmte, erklärte ihn Böhm für angenommen. Erst als die Konferenz diesen Betrug nicht akzeptierte, bestimmte er – nachdem er einen Vorschlag auf Abstimmung durch Stimmzettel zurückwies – einige der zur Bürokratie loyalen Funktionäre als Stimmenzähler. Das von diesen „festgestellte" und von einem großen Teil der Anwesenden angezweifelte „Ergebnis" der Abstimmung lautete in der Folge 420 Stimmen für und 380 gegen den Antrag Olahs. Böhm weigerte sich, nun über den Antrag Dworaks abzustimmen, und erklärte, dass mit der Annahme des ersten Antrags der zweite automatisch abgelehnt sei. Böhm schloss die Konferenz und verließ, von zornigen Protestrufen verfolgt, fluchtartig das Podium.33
Obwohl die Intervention Dworaks und der anderen IKÖler/innen letztlich mit einer Niederlage geendet hatte, hatte die ÖGB-Führung seit 1945 nicht so große Probleme gehabt, die Unzufriedenheit auf einer Konferenz unter Kontrolle zu halten. Abgesehen davon, dass durch diese Ereignisse das Prestige Dworaks und anderer in ihren Betrieben und bei einem Teil der Betriebsrät/innen sicherlich gestiegen ist, zeigte diese Konferenz auch, dass 1954 selbst bei SP-Betriebsratsobmännern/frauen noch ein gewisses Potenzial für eine klassenkämpferische Politik vorhanden war.
Die von der IKÖ erwartete Zuspitzung des Klassenkampfes sollte allerdings nicht eintreten. Stattdessen wurde die Stabilisierung des österreichischen Kapitalismus Mitte der 1950er Jahre vorerst abgeschlossen. Auf politischer Ebene wurde das durch den Staatsvertrag, der zwischen den Siegermächten des Krieges und der österreichischen Regierung abgeschlossen wurde, vollzogen. Mit der angeblich „immerwährenden Neutralität" hatte die österreichische Bourgeoisie erfolgreich den Ausstieg aus der Verantwortung für Nazi-Diktatur und Zweiten Weltkrieg geschafft und die relative Handlungsfreiheit im eigenen Herrschaftsbereich wiederhergestellt; freilich war die ökonomische und politische „Westorientierung" (auf die BRD und letztlich auch die NATO) von Anfang an klar.
Mit der österreichischen Arbeiter/innen/klasse traute sich die traditionell schwache österreichische Bourgeoisie, die nach dem Krieg deutlich angeschlagen war, nun – mit Hilfe der Sozialdemokratie – auch allein (ohne Besatzungstruppen in der Hinterhand) fertig zu werden. Die Streiktage gingen in den nächsten Jahrzehnten deutlich zurück. Das hieß aber durchaus nicht, dass es keine Streiks und andere Klassenkonflikte mehr gab. In den 1950er und 1960er Jahren gab es drei Jahre, die Ausreißer aus dem allgemeinen Trend waren: 1956 gab es mehr als 1,2 Millionen Streikstunden, 1962 etwa 5,1 Millionen und 1965 fast 3,4 Millionen.34
Den vermutlich längsten Streik der 2. Republik führten etwa 100 Beschäftigte der Ingste-Werke, einem Metallbetrieb bei Graz. Es ging um einen innerbetrieblichen Konflikt und der Ausstand dauerte von Juli 1956 bis Januar 1957, also etwa ein halbes Jahr. Diese Art von langem, erbittertem Streik war untypisch für die 2. Republik und erinnerte eher an die Arbeitskämpfe in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Anfang Oktober 1956 gab es dann den aufsehenerregenden Streik der Bäckereiarbeiter/innen. Nachdem ein Warnstreik im September nichts gebracht hatte, wurde nun für vier Tage die Arbeit niedergelegt. Nun zeigte der Streik Wirkung, die Sache wurde für die Kapitalist/inn/en zu kostspielig. Schließlich kam es zu einem Lohnabschluss im Sinne der Gewerkschaftsforderungen.
Mitte Oktober 1956 streikten schließlich im steirischen Donawitz etwa 3.800 Arbeiter/innen der Walzwerke, der Werkstätten und der Werksbahn des Werkes der Alpine-Montan-Gesellschaft. Die Arbeitsniederlegung dauerte zwölf Tage. Nach zähen Verhandlungen mit der Alpine-Generaldirektion wurden schließlich die Stundenlöhne der Arbeiter/innen in den Donawitzer Kaltbetrieben um 30 Groschen erhöht.
Die Installierung der so genannten „Paritätischen Kommission", eines dann zentralen Instruments der institutionalisierten „Sozialpartnerschaft", im Jahr 1957, wurde von gewerkschaftlicher Seite selbst in Zusammenhang mit dem deutlichen Rückgang der Streiktätigkeit gesetzt. Das Bestreben der ÖGB-Bürokratie, das Anlaufen dieses neuen Konfliktsteuerungsinstruments nicht durch Lohnkämpfe zu gefährden, zeigte sich an einem auffälligen Rückgang des Anteils an Lohnstreiks in den kommenden Jahren.35
31 IKÖ: SP-Betriebsräte gegen SP-Führung, Spartakist Nr.83, Juli 1954, zitiert nach: Wegner 2012, Stagnation und..., S. 90
32 Im „Spartakist" ist nur von „einem Metallarbeiter" die Rede, da man aufgrund der Illegalität Dworak nicht als Trotzkisten nennen konnte.
33 Wegner 2012, Stagnation und..., S. 90-92
34 So die Angaben der ÖGB-Streikstatistik, auf: www.oegb.at
35 Karlhofer 1983, S. 39 und NEWS: Streiks in Österreich in der Nachkriegszeit, 2003, auf: www.news.at