Bewegung des Pflegepersonals 1987/89

 

Die im Folgenden beschriebene Bewegung fand zwar schon Ende der 1980er Jahre statt, da sie aber nicht zum Kampf um die Verstaatlichte passt, stellen wir sie an den Anfang dieses Teiles. In den Wiener Gemeindespitälern gab es in den Jahren 1988/89 eine Bewegung des Krankenpflegepersonals, deren Ausmaß und Radikalität für österreichische Verhältnisse bemerkenswert war.

 

Der Anlass für die ersten Proteste war der Abbau der damals üblichen 48-Stunden-Woche und die damit drohenden Einkommensverluste. So entstand im Frühjahr 1987 die von Teilen der Basis selbstorganisierte „Aktionsgemeinschaft Pflegepersonal“ (AP). Die Initiative ging von einigen Krankenpfleger/inne/n und Beschäftigten des MTD (Medizinisch-Technischer Dienst, etwa Physio- oder Ergotherapeutinnen) aus, von denen einige im Umfeld der trotzkistischen IKL beziehungsweise dann RKL (Revolutionär Kommunistische Liga) waren. Bald beteiligten sich an der AP auch die linken Gewerkschaftsfraktionen KIV (Konsequente Interessensvertretung) und GLB (Gewerkschaftlicher Linksblock). Die meisten Aktiven waren aber Unorganisierte, darunter sehr viele Krankenpflege-Schüler/innen.

Eine von der AP organisierte Informationsveranstaltung ließ die sozialdemokratische Gewerkschaftsfraktion FSG, die die Gewerkschaften im öffentlichen Gesundheitswesen beherrschte, wütend ihren Alleinvertretungsanspruch als Interessensvertretung für sich reklamieren. Eine Unterschriftenaktion mit immerhin 2.000 Unterschriften und eine Demonstration, die trotz der massiven Gegenkampagne seitens der Gewerkschaften über 400 Krankenpfleger/innen auf die Straße brachte, stoppte zunächst den geplanten Mehrstundenabbau bis zum Ende der Verhandlungen, die einen teilweisen Gehaltsausgleich durch die Anhebung von Zulagen bewirkte.[90] Das stellte für die AP einen ersten Erfolg dar und stärkte sicherlich ihr Prestige.

Etwa zwei Jahre später reagierte die AP auf die Mordserie im Pflegeheim Lainz, bei der alte Menschen von einer  Gruppe von Pfleger/innen getötet wurden und die wochenlang die Medien beherrschte. Die Arbeitsbedingungen im Pflegebereich wurden thematisiert und diesmal waren die Organisationsstrukturen und die Breite der Bewegung bereits umfassender. Die zentralen Forderungen der AP waren „mehr Geld, mehr Personal, mehr Mitbestimmung“. Die AP forderte 3.000 Schilling mehr und ein eigenes Gehaltsschema für das gesamte Pflegepersonal, während die Gewerkschaftsführung lediglich 1.000 Schilling mehr und ein Gehaltsschema nur für diplomiertes Personal forderte. Und während die FSG-Funktionär/inn/en eine Personalaufstockung für Wien von lediglich 500 Schwestern verlangte, forderte die AP ein Plus von mindestens 1.600. Und schließlich verlangte die AP mehr Mitbestimmung von unten, also von den Stationen, während die Gewerkschaftsbürokratie das Modell der „kollegialen Führung“ bis „hinunter zum Krankenbett“ forcierte.

Dazu kamen natürlich gravierende Auffassungsunterschiede über die Art und Weise der Durchsetzung von Forderungen. Während die FSG wie immer auf Verhandlungen hinter verschlossenen Türen setzte, wollte die AP eine möglichst weitgehend Aktivität der betroffenen Beschäftigten.  Dementsprechend gab es neben einem regelmäßigen Plenum (im „Club International“ am Yppenplatz), an dem jeweils etwa 50 Aktivist/inn/en teilnahmen, auch dezentrale Spitalsgruppen der AP, etwa im Otto-Wagner-Spital oder im AKH/St.Anna-Kinderspital. Außerdem wurden Arbeitsgruppen zu verschiedenen Themen eingerichtet, darunter auch zur Frage des Streiks, da die Erfahrung gezeigt hatte, dass Straßendemonstrationen allein zu wenig brachten. Erste Schritte von Kampfmaßnahmen wurden diskutiert und im kleinen Rahmen auch angewandt. Die Gewerkschaftsführung reagierte mit Verleumdungen und Einschüchterungsversuchen.[91]

Die AP mobilisierte schließlich für eine Demonstration am 26. Juni. Etwa 3.000 Krankenpfleger/innen nahmen daran teil und machten ihrer jahrelang aufgestauten Unzufriedenheit Luft. Bis wenige Tage davor polemisierte die Gewerkschaftsführung noch heftig gegen die Demo – um sich dann (angesichts der Größe der Bewegung) doch in allerletzter Minute an die Demonstration anzuhängen. Frei nach dem Motto „Frechheit siegt“ reihte sich nahezu die gesamte Riege der Gewerkschaftsfunktionär/innen (allen voran die Oberbürokratin Fach) gleich nach dem Fronttransparent in den Zug ein. Sie scheuten nicht vor Interviews als Vertreter/innen der Bewegung zurück und überlegten nicht zweimal, das Angebot einer Wortmeldung bei der Schlusskundgebung anzunehmen.

Die Rechnung ging auf. Frau Fach konnte die oft indifferente Einstellung der Demonstrant/inn/en für sich ausnutzen und erntete für die Bekundung einer nichtssagenden Solidarität und der diffusen Ankündigung einer Besoldungsreform kräftigen Beifall. Den überrumpelten Organisator/inn/en der AP gelang es kaum, die Scheinheiligkeit dieser „Solidarität“ deutlich zu machen; auch deshalb, weil die Illusion weit verbreitet war, dass die Gewerkschaftsführung durch etwas Druck für den Kampf um die Interessen der Beschäftigten zurückgewonnen werden könnte. Obwohl die Demonstration ein Erfolg der AP war, sie damit weiter Anerkennung gewonnen hatte, weitere Kampfmaßnahmen und die Einbindung in die Verhandlungen forderte, war die Bewegung an einem Wendepunkt.[92] Die Bürokratie hatte begonnen, die Kontrolle über die Basis ein Stück weit wiederzugewinnen.

Die AP war auch eine uneinheitliche Formation. Unter den Basisaktivist/inn/en waren solche mit antikapitalistisch-revolutionären Ideen ebenso wie eher neu politisierte, die keine klaren Vorstellungen hatten. Dazu kamen KIV und GLB, deren Agieren von manchen Aktivist/inn/en als Vereinnahmungsversuche empfunden wurde. Insgesamt war das Konzept, Druck auf die Gewerkschaftsführung auszuüben, damit diese sich tatsächlich für die Beschäftigten einsetzt, weit verbreitet. Letzteres war angesichts der engen Verflechtung der Gewerkschaftsbürokratie mit dem Staat – und besonders mit dem Management der Wiener Spitäler – eine Illusion. Natürlich war es möglich, die Gewerkschaftsspitze unter Druck zu setzen und sie auch halbherzig in den Kampf zu ziehen, nicht aber, ihren politischen Charakter zu ändern. Deshalb war der Aufbau von Basisstrukturen auf den Dienststellen eine zentrale Aufgabe der Bewegung. Das wurde aber nur vom bewusstesten und radikalsten Teil der Bewegung vorangetrieben und letztlich nur in Ansätzen verwirklicht.[93]

Dennoch waren der Unmut in den Belegschaften und der Druck der Basisbewegung um die AP stark genug, um die Gewerkschaftsspitze zu zwingen, die Beschäftigten der Spitäler erneut auf die Straße zu rufen. Sie wollte damit im Wesentlichen die Kontrolle zurückgewinnen und ihre Rolle als alleinige legitime Vertreterin des Krankenhauspersonals wieder festigen. Die „unkontrollierte“ Bewegung der Basis, die der Bürokratie als bedrohlich erschien, sollte in die Schranken gewiesen werden. In Reden der Gewerkschaftsführer/innen sollte das „maximal Mögliche“ den Beschäftigten verkauft werden, damit diese wieder brav an ihre Arbeit zurückkehren.

Doch es kam anders. Die Aktivist/inn/en der AP verstanden es, das Sprachrohr der überwiegenden Mehrheit der etwa 4.500 Demonstrant/inn/en zu sein. Den Beginn der Demonstration schilderte die AP selbst wie folgt: „Sie begann damit, dass uns die Gewerkschaftsspitzen ‚einen Spaziergang‘ am Gehsteigs des Rings verordneten. Dies ließen wir uns allerdings nicht gefallen und scherten auf den Ring aus, denn niemand – außer unseren Gewerkschaftsspitzen – war gekommen, einen Trauermarsch abzuhalten, sondern diese Demonstration sollte Gelegenheit bieten, den berechtigten Unmut über die katastrophalen Arbeitsbedingungen auszudrücken.“[94]

Sehr aussagekräftig war das Bild, als die Gewerkschaftsführung alleine auf der Nebenfahrbahn des Rings (der Prunkstraße um die Wiener Innenstadt) stand und das Krankenpflegepersonal – angewidert von der Lahmarschigkeit der Gewerkschaftsbürokrat/inn/en und angeführt von den Aktivist/inn/en der AP – sich auf der Hauptfahrbahn zu einem neuen, kämpferischen und lautstarken Demonstrationszug formierte. Und symbolisch war das Verhalten der Gewerkschaftsspitze in dieser Situation: Ängstlicher Blick zurück und rasch wieder an die Spitze des neuen Demonstrationszuges. Aber jetzt war es nicht mehr „ihr“ Demonstrationszug!

Das zeigte deutlich und überzeugend die Schlusskundgebung. Wie der offizielle Teil der Schlusskundgebung auf die Demonstrant/inn/en wirkte, kam sogar in einem Schreiben der sozialdemokratischen FSG der Krankenanstalt Rudolfstiftung an die dortigen Beschäftigten zum Ausdruck. Darin heißt es: „Viele von Euch konnten die Erschütterung über die Unfähigkeit und Ignoranz der Redner, über tatsächliche Probleme zu sprechen oder wirkliche Forderungen zu stellen, in unser aller Gesichter ablesen. Unsere Betroffenheit, wie man uns bei der Demonstration behandelte, lässt sich nur mit folgenden Worten ausdrücken: ‚Wir schämen uns! Wir schämen uns für diese Gewerkschaftsführung!“ Und an die Adresse der Gewerkschaftsführung gerichtet schrieben sie: „Ihr habt offenbar den Kontakt zur Basis nicht mehr. Ihr habt zu Kämpfen verlernt. Überprüft Eure Berechtigung eine Hauptgruppe zu leiten!“

Die AP hatte sich diesmal auf die Lage gut vorbereitet gezeigt. In einem Flugblatt, das auf der Demonstration verteilt wurde, forderte sie unter anderem: „Demokratische und offene Diskussion bei der Schlusskundgebung – Freies Mikro!“ Die Gewerkschaftsführung versuchte das zu verhindern. Erst als aus mehreren tausend Kehlen der Ruf nach einem „Freien Mikro“ laut wurde und sich die Menge bedrohlich auf den Bus, hinter dem sich die Führung verschanzt hatte, zubewegte, gaben die Bürokrat/inn/en ängstlich das Mikrophon frei. Dieses Ziel war erreicht. Die Basis hatte über die Bürokratie einen in Österreich seltenen Sieg errungen. Dementsprechend groß war die Freude, ein Stückchen Demokratie in der Arbeiter/innen/bewegung war erkämpft worden.[95]

Der Druck der Beschäftigten der Krankenhäuser war so groß, dass der „Dienstgeber“ (die sozialdemokratische Gemeindeverwaltung Wiens) und die Gewerkschaftsbürokratie etwas tun mussten, um die Situation wieder zu befrieden. Die Folge war ein auffallend gutes Verhandlungsergebnis. Durch dessen Präsentation bekam die Gewerkschaftsspitze dann auch die Fäden wieder in ihre Hände. Und die Mehrheit der aktiv gewordenen Krankenpfleger/innen ließ sich dadurch von ihrer Motivation für weitere Aktionen abbringen. Das zeigte der internationale Aktionstag des Pflegepersonals am 21. Oktober 1989, für den die AP zu einer Demonstration mobilisiert hatte, zu der aber nur mehr wenige Pfleger/innen kamen. Der Plan der AP, mit dieser Demonstration den Startschuss für eine Intensivierung der Bewegung zu geben, war damit gescheitert.

Der „harte Kern“ der AP versuchte noch mit aller Kraft, die Bewegung fortzuführen und noch weitere Zugeständnisse zu erzwingen. Propagiert wurde, verstärkt Spitalsgruppen aufzubauen und den aktiven Widerstand in die Dienststellen hineinzutragen. Gedacht war dabei etwa an Bettenschließungen, Dienst-nach-Vorschrift und Urabstimmungen über Kampfmaßnahmen. Das konnte aber nicht mehr umgesetzt werden, denn die Bewegung hatte bereits an Dynamik verloren. Auch der Vorschlag von Teilen der AP, bei den Personalvertretungswahlen im März 1990 als AP – und damit als Bündnis verschiedener Strömungen –  zu kandidieren, scheiterte an der Ablehnung von KIV und GLB, die beide ihre Fraktionsstrukturen und -listen aufrechterhalten wollten. Die AP zerfiel dann auch in den folgenden Monaten in ihre Bestandteile; viele der zuvor unorganisierten Aktivist/inn/en stellten ihre Aktivität wieder ein, manche aber schlossen sich KIV, GLB oder RKL an.

Dennoch hatte die AP durchaus etwas erreicht. Selbst Rudolf Hundstorfer, damaliger Vorsitzender der Gewerkschaft der Gemeindebediensteten und späterer Sozialminister, gestand der Bewegung in einem Interview ein Verdienst am Zustandekommen des Verhandlungsergebnisses zu: „Sie hat konkrete Ergebnisse beschleunigt, das muss man schon so sehen. Die konkrete Umsetzung der Forderungen wurde dadurch sicher vorangetrieben, ja durchaus.“ Tatsächlich hat die von der AP initiierte Bewegung das Verhandlungsergebnis nicht beschleunigt, sondern erst ermöglicht. Die erreichten Verbesserungen waren auch ungewöhnlich gut: Die Gehälter wurden um durchschnittlich 10% angehoben und es wurden 1.200 neue Dienstposten geschaffen – also deutlich mehr als die von der Gewerkschaft ursprünglich geforderten 500.[96]

Diese Zugeständnisse lagen weit über dem Durchschnitt der alljährlichen Verhandlungsergebnisse zwischen „Arbeitgebern“ und Gewerkschaften. Möglich war das nur aufgrund des Drucks der von der AP geführten Bewegung. Diese Bewegung zeigte, was mit ernsthaften Mobilisierungen möglich ist. Dass nach den erreichten Zugeständnissen die Bewegung rasch wieder ein Ende fand, lag natürlich einerseits an der gesamtgesellschaftlichen Situation, wo es sonst kaum Kämpfe der Lohnabhängigen gab und die Proteste des Pflegepersonals isoliert blieben. Dazu kommt aber auch, dass die revolutionären Kräfte am linken Flügel der AP vor und nach der Bewegung keine systematische  Ausrichtung auf eine politische Verankerung hatten und so keine kontinuierliche Präsenz klassenkämpferischer Strukturen geschaffen werden konnte. In der Folge gewannen die reformistischen Strömungen und die politische Passivität wieder die Oberhand.

 



[90] Haumer 2011, S. 113 und ein Gespräch mit einer ehemaligen AP-Aktivistin im Jänner 2013.

[91] Gespräch mit einer ehemaligen AP-Aktivistin, Haumer 2011, S. 113 und A.: Gedanken zum Kampf des Pflegepersonals, in: Klassenkampf (Zeitung der RKL) Nr. 3, September 1989, S. 18. Die RKL war Anfang 1989 als Zusammenschluss der Reste der IKL (um Peter Haumer und Karl Pawelka) sowie einer Abspaltung der SOAL/GRM (um Eric Wegner und Willi Langthaler) entstanden. Sie stand im Wesentlichen auf der politischen Grundlage der IKL, entfernte sich aber ab 1991 immer mehr von trotzkistischen Positionen (worauf die trotzkistisch orientierten Teile die RKL verließen, eine Gruppe um Wegner bereits 1991, eine Gruppe um Haumer/Pawelka dann etwas später). Das Kapitel zur AP im Text von Haumer orientiert sich sehr eng an diesem und einem weiteren Artikel der RKL, an der er damals in führender Position beteiligt war.

[92] A. 1989, S. 18 und Haumer 2011, S. 113

[93] Gespräch mit einer ehemaligen AP-Aktivistin und A. 1989, S. 18-19

[94] RKL: Wie weiter im Kampf des Pflegepersonals?, in: Klassenkampf Nr. 4/5, November/Dezember 1989, S. 1 und Haumer 2011, S. 114

[95] RKL 1989, S. 1 und S. 3

[96] RKL 1989, S. 3-6 und Haumer 2011, S. 115

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