Im Semperit-Reifenwerk in Traiskirchen (südöstliches Niederösterreich) hatte es bereits vor dem großen Streik von 1978 immer wieder Arbeitskämpfe gegeben, etwa im Herbst 1970 stundenweise Arbeitsniederlegungen von etwa 850 Beschäftigten für höhere Löhne. Anfang der 1970er Jahre war es dann zu einem „wilden Streik“ gekommen, den die beiden kommunistischen Betriebsräte Federspiel und Grandl ausgelöst hatten, um ein arbeitsfreies Wochenende zu erzwingen – in Vorwegnahme der vor der etappenweisen Einführung stehenden 40-Stunden-Woche. Der Streik wurde vom damaligen Betriebsratsobmann Josef Musser nicht unterstützt, dauerte nur wenige Tage und endete mit einem vollen Erfolg. Das Wochenende wurde arbeitsfrei. Mussers Nachfolger wurde bald darauf ein Mitglied des Streikkomitees, nämlich der Sozialdemokrat Alfred Maierhofer.[62]
Von 17. April bis 11. Mai 1978 wurde dann das gesamte Reifenwerk durch den Streik von 477 Reifenwickler/inne/n und Bedienungsleuten lahmgelegt. Aufgrund der Umstellung von Diagonalreifen auf Stahlcordgürtelreifen und der damit reduzierten körperlichen Belastung hatte die Betriebsleitung den Arbeiter/inne/n Zulagen gestrichen, was zu einem Lohnverlust von 500 Schilling geführt hatte. Die Arbeiter/innen argumentierten, dass durch Intensivierung und erhöhte Konzentration die Belastung sogar gestiegen sei. Gefordert wurde eine Lohnerhöhung, die dem Rechnung tragen sollte. Eine Reihe von Gesprächen zwischen Betriebsrat und Unternehmensleitung war ergebnislos verlaufen. Maierhofer zeigte sich sehr konzessionsbereit. Er hatte die Belegschaft zur Halbierung ihrer Forderung von ursprünglich 1.000 auf nun 500 Schilling (beziehungsweise 350 für das Bedienungspersonal) gebracht und der Leitung im Gegenzug sogar die Unterstützung bei weiteren Rationalisierungsmaßnahmen in Aussicht gestellt.
Die Leitung aber fürchtete Folgeforderungen in anderen Abteilungen und lehnte den Vorschlag kategorisch ab. Vermutlich wollte Semperit, mehrheitlich zur staatlichen Creditanstalt gehörend, aber auch eng mit einer Tochterfirma des französischen Michelin-Konzerns verbunden, mit der harten Haltung auch ein Exempel statuieren: Zumindest vermutete Betriebsrat Maierhofer, dass „die Franzosen“ der Meinung seien, in Österreich gäbe es zu viel Mitbestimmung und „Kollegialorgane“.
Jedenfalls sprachen sich die Reifenwickler/innen in einer Urabstimmung am 14. April für den Streik aus. Von den 477 Arbeiter/inne/n nahmen 427 an der Abstimmung teil und 401 stimmten für den Streik. Die Gewerkschaft der Chemiearbeiter/innen sagte die Unterstützung zu, und drei Tage später trat die Frühschicht in den Streik. Da die Reifenwickler/innen einen zentralen Punkt im Produktionsablauf darstellten, stand nach wenigen Tagen das ganze Werk mit rund 2.000 Arbeiter/inne/n still. Die nicht-streikenden Arbeiter/innen mussten mit Reinigungs- und Reparaturarbeiten beschäftigt werden. Dennoch solidarisierte sich die gesamte Belegschaft mit dem Kampf der Reifenwickler/innen. Die Gewerkschaft zahlte Streikgeld.
Die Streikenden diskutierten laufend den Verlauf des Streiks in den Werkshallen, es wurden vom Betriebsrat jedoch keine offiziellen Versammlungen abgehalten. Dadurch gab es auch keine ständige kollektive Willensbildung. Die Informationen flossen spärlich, weil sie der Betriebsrat für sich behielt. Es gab auch keinerlei Diskussion und Austausch mit den anderen Abteilungen. Auslieferungen aus dem noch gut gefüllten Lager wurden widerstandslos hingenommen. Maierhofer zeigte sich – wohl auch in Hinblick auf die bevorstehenden Betriebsratswahlen im Herbst – als hartnäckiger Interessensvertreter der Belegschaft, aber er führte den Kampf bürokratisch von oben herab, ohne Einbindung oder gar Selbstorganisation der Arbeiter/innen.[63]
Die Fronten waren in der Anfangsphase verhärtet. Obwohl der Produktionsausfall eines einzigen Streiktages der Lohnerhöhung für ein Jahr entsprach, blieb die Leitung stur. Der neue Vorstandsdirektor erklärte gar, „es reize ihn, in dieser Frage nicht nachzugeben“. Der Vorstand ließ Flugblätter an die Familien der Beschäftigten verteilen, in der vor einem Verlust der Arbeitsplätze gewarnt wurde, was die geplante Wirkung aber verfehlte und vielmehr als Provokation empfunden wurde. Die nach Streikbeginn vorgenommene Abmeldung der Streikenden von der Sozialversicherung wurde durch die Weiterversicherung aus Mitteln des Betriebsratsfonds kompensiert.
Die vielen Sympathieäußerungen für den Streik, die Kosten durch den Produktionsausfall und auch die Interventionen durch ÖGB- und Parlamentspräsident Anton Benya, Bundeskanzler Kreisky und Finanzminister Hannes Androsch veranlassten den Semperit-Vorstand schließlich zu einem bescheidenen Angebot: 250 Schilling mehr für die Reifenwickler/innen (statt der geforderten 500) und 175 Schilling für die Bedienungsleute (statt 350). Das Angebot wurde empört abgelehnt, die Verhandlungen vom Betriebsrat abgebrochen. Nun griff die ÖGB-Spitze direkt in die Verhandlungen ein und erarbeitete mit dem Vorstand einen „Kompromissvorschlag“: 350 Schilling mehr für die Reifenwickler/innen, 280 mehr für die Bedienungsleute, gekoppelt mit einem 9-Punkte-Rationalisierungsprogramm, das etliche Verschlechterungen für die Arbeiter/innen enthielt: Das Herrichten der Werkzeuge sollte nun nicht mehr als Arbeitszeit gelten, Sicherheitsgriffe sollten aus den Arbeitsvorschriften entfernt werden, die Auslastungsprämie sollte reduziert werden, bei Maschinenwechsel sollte es keinen Durchschnittsanspruch mehr geben, die Zeitverluste durch die Kontrolle der Qualitätsprüfer sollten nicht mehr gutgeschrieben werden.
Für die meisten Arbeiter/innen war die Lohnerhöhung schon akzeptabel, die Hauptfrage wurde aber nun das 9-Punkte-Rationalisierungsprogramm, das real Mehrarbeit bedeutete und die Erhöhung mehr als ausglich. Auch Maierhofer, der trotz seiner bürokratischen Vorgangsweise ein harter Verhandler war, sprach sich gegen den „Kompromiss“ der ÖGB-Führung aus. Am 8. Mai gab es darüber eine Urabstimmung, an der 441 Kolleg/inn/en teilnahmen, von denen 410 für die Fortsetzung des Streiks stimmten.
Nun stellte sich nicht nur der SPÖ-Finanzminister Androsch frontal gegen die Streikenden. Die Gewerkschaft der Chemiearbeiter/innen beschloss in einer Vorstandssitzung am 11. Mai, dem Streik bei Semperit die Anerkennung zu entziehen. Als Folge davon kapitulierte nun auch der Betriebsratsvorsitzende. Bei einer Sitzung bei Benya im Parlament stimmte Maierhofer nun einem geringfügig verbesserten Angebot der Firmenleitung zu: Ab August 450 Schilling mehr für die Reifenwickler/innen, 315 mehr für die Bedienungsleute. Das 9-Punkte-Rationalisierungsprogramm wurde zurückgezogen. Gleichzeit sicherte der Betriebsrat aber zu, dass er bereit sei, „an der Ermittlung, Prüfung und Einführung aller Maßnahmen zur Verbesserung der Produktqualität und einer rationelleren Gestaltung der betrieblichen Abläufe aktiv mitzuwirken“, was in der Realität dann natürlich in eine ähnliche Richtung wie das 9-Punkte-Programm ging. Aufgrund dieser Zusage konnte die Generaldirektion das Verhandlungsergebnis den Aktionär/inn/en auch als Erfolg verkaufen.
Durch das eigenmächtige Agieren des Betriebsratsobmannes war der Streik nicht mehr aufrechtzuerhalten und brach sogleich zusammen. Bereits die Nachtschicht am 11. Mai nahm die Arbeit wieder auf. Den Streik gegen den Willen von Gewerkschaft und Betriebsratskörperschaft weiterzuführen – dazu hatte die Belegschaft nicht mehr die Kraft. Dem Betriebsrat und der Gewerkschaft war es in dem Arbeitskampf wohl höchstens am Rande um die Lohnfrage gegangen, sondern um das eigene Mitspracherecht im Betrieb. Solange die Gewerkschaftsbürokrat/inn/en und von der Arbeit freigestellten Betriebsratsfunktionäre mitreden dürfen (und so ihre Existenz rechtfertigen können), sind sie in der Regel zur „Mitgestaltung“ diverser Verschlechterungen bereit. So stimmte Maierhofer ein Jahr nach dem Streik den berüchtigten unbezahlten „Freischichten“ zur Sanierung des Unternehmens zu, unter Hinnahme von Entlassungen von sich sträubenden Arbeiter/innen.[64]
[62] Karlhofer 1983, S. 150 und Heinz Granzer: Es war einmal ein Semperit-Konzern…, in: Die Arbeit 1-2/2002
[63] Karlhofer 1983, S. 65-67, Haumer 2011, S. 129-130 und Josef Aichholzer / Ruth Beckermann: Auf amol a Streik, Dokumentarfilm 1978
[64] Aichholzer/Beckermann 1978, Haumer 2011, S. 130-131 und Karlhofer 1983, S. 66-69