Geschrieben von Maria Pachinger (Arbeitsgruppe Marxismus), 19 März 2004
1. Hinter der Integration von acht mittel- und osteuropäischen Ländern (Slowenien, Ungarn, Slowakei, Tschechien, Polen, Litauen, Lettland, Estland mit etwa 75 Millionen EinwohnerInnen) in die EU steht das strategische Interesse des europäischen und dabei besonders des deutschen Kapitals, sich...
einen Hinterhof zu schaffen - einen Hinterhof, der billige, hochqualifizierte Arbeitskräfte und neue Absatzmärkte bietet, politisch stabil und dem Einfluss des US-Imperialismus einigermaßen entzogen ist.
Neben den ökonomischen Faktoren, insbesondere der besseren Ausbeutbarkeit der ArbeiterInnen der Mittel- und osteuropäischen Länder spielt die politische Stabilität für die EU-ImperialistInnen eine zentrale Rolle. Der European Round Table of Industrialists (ERT), eine wichtige Lobbyorganisation des europäischen Kapitals, bringt es auf den Punkt: "Um längerfristige Investitionen von westlichen Unternehmern abzusichern ist die politische und ökonomische Stabilität die oberste Priorität. Um ausländische Investoren anzuziehen müssen die mittel- und osteuropäischen Länder eine Politik machen, die größere makro-ökonomische Stabilität gewährleistet."
2. Mit der ökonomischen Durchdringung von Mittel- und Osteuropa hat das europäische Kapital freilich nicht erst auf den Beitritt der Erweiterungsländer gewartet. Was es an profitablen Unternehmen zu holen gab, ist bereits fest in westlicher, vor allem in westeuropäischer Hand. Die Handelsliberalisierung und Durchdringung der heutigen EU-Erweiterungsländer durch den kapitalistischen Westen hat nicht erst mit den EU-Beitrittsgesprächen begonnen, sondern schon vor 1989. Ungarn ist als erstes der mittel- und osteuropäischen Länder schon 1982 dem IWF und der Weltbank beigetreten. Der Vormarsch der europäischen KapitalistInnen hat sich ab Anfang der 90er Jahre, konkret mit den Assoziierungsabkommen von 1992/93, aber maßgeblich beschleunigt. Mit dem Lockmittel der baldigen EU-Mitgliedschaft (von der sich die mittel- und osteuropäischen Länder einen regen Fluss von Fördermitteln erwarteten) haben die EU-Imperialismen die herrschenden Eliten in den Beitrittsländern unter Druck gesetzt, staatliches Eigentum zu Schleuderpreisen zu verkaufen und ihren Außenhandel ganz nach den Bedürfnissen der EU auszurichten.
Die EU-15 waren mit dieser Politik in den einzelnen Ländern unterschiedlich erfolgreich; vor allem für die Ökonomien von Ungarn, Tschechien, Lettland und Estland lässt sich sagen, dass sie zu einem substantiellen Teil von außen gelenkt werden. In Ungarn sind von einst 2000 Staatsbetrieben nur noch 134 übrig; 90% des exportfähigen Lebensmittel- und Agrarsektors und 40 Prozent aller Privatunternehmen sind in ausländischer Hand. In Tschechien bestreiten die reinen Privatunternehmen 80% des BIP. Das im internationalen Vergleich an sich schwache österreichische Kapital spielt dabei keine irrelevante Rolle. In der Slowakei und in Slowenien stammt gut ein Viertel des investierten ausländischen Kapitals aus Österreich.
Im Finanzbereich hatte das EU-Kapital in allen Erweiterungsländern durchschlagenden Erfolg: mit dem Jahr 2002 war die Übernahme der osteuropäischen Geldinstitute und ihrer Filialnetze weitgehend abgeschlossen.
3. Die "Integrationspolitik"der EU im letzten Jahrzehnt hat auf verschiedenen Ebenen zu einer verstärkten Abhängigkeit und verbesserten Ausbeutbarkeit der mittel- und osteuropäischen Länder geführt.
Während die EU ihre östlichen Nachbarländer praktisch unbeschränkt mit ihren Produkten überfluten konnte, sind alle "sensiblen Produkte" aus den EU-Erweiterungsländern mit einer Importbeschränkung belegt worden.
"Sensibel" bezeichnet dabei genau jene Bereiche, in denen die Erweiterungsländer mit der EU konkurrenzfähig sind. Darunter fallen die meisten Agrarprodukte und sogenannte landwirtschaftsnahe Produkte der Nahrungsmittelindustrie, vor allem Milch- und Fleischprodukte.
Anfang der 90er Jahre hatten die mittel- und osteuropäischen Länder noch ein positives Außenhandelssaldo; heute weisen sie alle ein Defizit auf. Die Importe aus der EU sind gegenüber ihren Exporten überproportional steigend. Die ohnehin begrenzten Exporte gehen dabei meist auf westliche Firmen zurück, die Zulieferaufträge in den Osten vergeben.
Außerdem profitiert das EU-Kapital von den vergleichsweise niedrigen Lohnkosten einer gut ausgebildeten ArbeiterInnenklasse in den mittel- und osteuropäischen Ländern.
4. Anders als in der kapitalistischen EU-Propaganda verlautbart steht fest: Das Geld fließt nicht vom Westen in den Osten, sondern vom Osten in den Westen. Durch die Finanzierung des Außenhandelsdefizits durch Kredite aus dem Westen haben sich die mittel- und osteuropäischen Länder enorm verschuldet. Ausländische Direktinvestitionen der EU-ImperialistInnen haben zu keiner Reichtumssteigerung der mittel- und osteuropäischen Ökonomien geführt, da die von den EU-KapitalistInnen aufgekauften und aufgebauten Betriebe zumeist von ihren Steuerverpflichtungen befreit sind und sie ihre Gewinne in die EU rücküberweisen. 1999 hat der Zufluss an ausländischen Direktinvestitionen in Tschechien dem Abfluss an repatriierten Gewinnen entsprochen.
5) Die Kosten für die Integration der mittel- und osteuropäischen Länder sind für das EU-Kapital bisher relativ gering ausgefallen. Die "Hilfsgelder", die (unter Namen wie "Phare") bisher in die mittel- und osteuropäischen Länder geflossen sind, waren erstens nicht besonders hoch und haben dem imperialistischen Westen dazu gedient, unter der Propagandalosung "Aufbau einer Zivilgesellschaft" EU-kompatible Fachkräfte für den Verwaltungs- und Bildungsapparat auszubilden.
Neben der Übernahme des EU-konformen Rechtsapparats, dem sogenannten "aquis communautaire", ist die Existenz solcher "zivilgesellschaftlicher" Strukturen in Mittel- und Osteuropa für das imperialistische Kapital ein entscheidender systemstabilisierender Faktor. Sie sorgen dafür, dass die ArbeiterInnenklasse systemgerecht "funktioniert" und verleiht dem ausbeuterischen kapitalistischen System mit seinem "demokratischen" Antlitz stärkere Legitimität.
6) Auch für die Zukunft hat sich hat sich das westeuropäische Kapital abgesichert: Es lässt sich die Subventionierung der Landwirtschaft (wohin der Großteil der Fördermittel fließt) der mittel- und osteuropäischen Länder vorerst gerade mal etwas mehr als ein hundertstel Prozent des BIP der EU-15 kosten. Das sind gerade mal 3% der Mittel, mit denen die westeuropäischen Bauern subventioniert werden. Erst 2013 soll die volle "Fördergerechtigkeit" bei Agrarsubventionen wirksam werden. Bis dahin sorgen Produktionsquoten und Flächenstilllegungsprogramme in den mittel- und osteuropäischen Ländern dafür, dass die neuen EU-Mitglieder ihren bisherigen Status als Nettoimporteure von Agrarprodukten behalten. Der hochsubventionierten westeuropäischen Landwirtschaft wird vorerst also keine allzu relevante Konkurrenz erwachsen.
Wie mickrig sich die Fördergelder für die EU-Erweiterungsländer ausmachen zeigt sich am besten an Hand eines Vergleichs mit der "Vereinigung Deutschlands". Deutschland war die Integration der DDR 32-mal so viel wert wie die Integration von Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Slowenien und der baltischen Länder der EU wert ist. Von einer Angleichung der Ex-DDR-Ökonomie an jene der BRD kann bis heute keine Rede sein. Man kann sich also ausrechnen, wie die Chancen für die mittel- und osteuropäischen Ökonomien stehen, den Anschluss an den imperialistischen Teil der EU zu schaffen.
7) Ein Indikator für ein fortgeschrittenes Industrieland ist die Existenz einer mehr oder weniger eigenständigen nationalen Bourgeoisie. In den mittel- und osteuropäischen Ländern ist es bis heute - wiewohl mit länderspezifischen Unterschieden - zu keiner Herausbildung derselben gekommen. Eine entscheidende Ursache hierfür liegt in der Tatsache, dass das westliche Kapital die Transformation der Osterweiterungsländer zu kapitalistischen Ökonomien ohne die Mithilfe der "einheimischen" bürgerlichen Klasse vollzogen hat. „Nationaler Träger" der Transformation war die gewendete Bürokratie, die eine relativ geringe gesellschaftliche Verankerung hatte. Dadurch konnten die ausländischen Kapitalgruppen von Beginn an strategische Positionen in den Ökonomien der mittel- und osteuropäischen Länder besetzen.
8) Anders als die Süderweiterungsländer (Griechenland wurde 1981, Spanien und Portugal wurden 1986 EU-Mitglieder) mit ihren etwa 60 Millionen EinwohnerInnen werden die Osterweiterungsländer durch die Anbindung an die EU-Imperialismen auf absehbare Zeit Schwellenländer bleiben. Der Unterschied zwischen den beiden Erweiterungsprozessen kann dabei nicht mit dem Argument der größeren „Rückständigkeit"der Osterweiterungsländer begründet werden. So war das BIP/Kopf von Griechenland, Spanien und Portugal Mitte der 70er Jahre im Vergleich zu den damaligen EG-Staaten kaum größer als jenes der mittel- und osteuropäischen Staaten 1995 im Vergleich zum durchschnittlichen BIP/Kopf der EU. Den Unterschied machen neben der erwähnten schwachen abhängigen bürgerlichen Klasse, die über eine deutlich geringere Tradition und gesellschaftliche Verankerung verfügt als in den Süderweiterungsländern, vor allem die geringer gewordenen ökonomischen Spielräume des Kapitals aus. Die EU-KapitalistInnen können sich eine ökonomische Angleichung der neuen EU-Mitlieder an das EU-Niveau, anders als in den 80er Jahren, in dem Ausmaß schlichtweg nicht mehr leisten. Nachdem die profitablen Bereiche ihres Industrie- und Finanzsektors bereits in ausländischer Hand sind, wird es nach der offiziellen Freigabe von Grund und Boden in diesem Bereich ähnlich aussehen. Die ausländischen Direktinvestitionen kommen vorwiegend den Unternehmen in ausländischer Hand zu Gute, die daraus erwachsenen Renditen fließen zurück in die ökonomischen Zentren der EU.
9) Als eine Möglichkeit, sich aus der völligen Abhängigkeit von der EU-Bourgeoisie zumindest partiell heraus zu manövrieren, haben die herrschenden Eliten in der mittel- und osteuropäischen Ländern zuletzt beim Irak-Krieg die Verbindung mit dem US-Imperialismus gesucht. Auf welche Seite sie sich in Zukunft schlagen werden, oder besser auf welche Seite sie geschlagen werden, hängt nicht zuletzt von der weiteren Entwicklung der EU und den USA ab.
Die USA sind aber in Osteuropa ökonomisch zu wenig verankert, als dass sie der kapitalistischen EU-Integration wirklich beine auf Dauer tragfähige Alternative entgegensetzen könnten. Wenn es den USA nicht (wie ansatzweise im Falle des Irak-Krieges) gelingt, das einheitliche auftreten der führenden EU-Länder wirklich substantiell zu schwächen, und wenn das kapitalistische EU-Projekt nicht überhaupt in eine ernsthafte Krise gerät, werden aber alle Versucher der mittel- und osteuropäischen Länder, sich durch ein "Ziehen der US-amerikanischen Karte" mehr Freiraum zu verschaffen, kaum eine Chance auf Erfolg haben.
10) Werden die mittel- und osteuropäischen Länder durch den EU-Beitritt einer verschärften Ausbeutung des internationalen Kapitals ausgesetzt? So berechtigt die Empörung vieler linker Gruppen und Individuen über das soziale Leid ist, das die EU über die Kandidatenländer bringt, sind damit oft Illusionen in eine protektionistisch abgeschottete nationalstaatliche Entwicklung verbunden. Tatsächlich ist eine solche Abschottungs-Perspektive angesichts der Internationalisierung des Kapitals und der forcierten Blockbildung im kapitalistischen Weltsystem heute utopisch. Doch selbst wenn deren Realisierung möglich wäre, an den kapitalistischen Ausbeutungsverhältnissen der ArbeiterInnen würde das nichts ändern.
Ein beliebtes Motiv, um gegen die EU-Osterweiterung mobil zu machen ist die Kritik an den undemokratischen Strukturen der EU. Fakt ist jedoch: Sowohl die nationalen Regierungen als auch die EU-Kommission und der EU-Rat, um bei der Exekutive zu bleiben, agieren im Interesse der herrschenden Klasse, mehr oder weniger gestützt auf gewählte "Volksvertretungen", die da wie dort die Entscheidungen der Bourgeoisie nur absegnen. Etwas anderes wäre es freilich, wenn die EU-Institutionen sich qualitativ - etwa durch diktatorische Züge - von den traditionellen parlamentarischen Strukturen unterscheiden würden. Davon kann bis jetzt aber keine Rede sein.
11) In der kapitalistischen Logik gibt es heute für rückständige Länder keine Alternative zur Integration in die imperialistischen Blöcke. Die Aufgabe von revolutionären Kräften kann deshalb nicht der Kampf für oder gegen den Beitritt der mittel- und osteuropäischen Länder - und auch sonst keiner Länder in diesem System - in die EU sein. Vielmehr gilt es, das internationale Proletariat für den Kampf gegen die imperialistische Blockbildung und gegen die EU- und nationalstaatliche Standortlogik zu gewinnen. Entscheidend für den Erfolg dieses Kampfes ist die Änderung des Kräfteverhältnisses in der ArbeiterInnenbewegung zugunsten einer systemüberwindenden Perspektive, und damit der Aufbau einer revolutionären Organisation.
Maria Pachinger
(beschlossen am 19.3.2004)