05. November 2009
Die aktuellen Proteste an den österreichischen Unis sollten, so Teile des Establishments, als Anlass dienen, eine längst notwendige „Bildungsdebatte" anzustoßen. Wir wollen die Gelegenheit nützen zu einem grundsätzlichen Artikel über bürgerliche Bildungsideale und sozialistische Konzepte.
Schulen und Universitäten sind Strukturen des bürgerlichen Staates und von daher auch ein Ausdruck ebendieses Staates. So wie die Geschichte der Pflichtschule ohne das Klasseninteresse der Bourgeoisie nicht denkbar ist, wird auch in Zukunft in letzter Instanz das Schulsystem ein Ausdruck des Klassenstaates und jener Klasse, der dieser Staat verpflichtet ist und in dessen Interesse dieser agiert, bleiben müssen. Eine „kritische Erziehung" kann deshalb von MarxistInnen nicht den Schulen und Unis des bürgerlichen Staates überantwortet werden. Die bürgerliche Gesellschaft nützt die Schule systematisch als Ort, um Kinder und Jugendliche für das kapitalistische System funktionstauglich zu machen. Das geschieht nicht aus Jux und Tollerei, sondern ist notwendiger Teil eines funktionsfähigen kapitalistischen Schulbetriebs. An den Unis ist diese Disziplinierung indirekter, versteckter – und auch geringer, sollen hier doch die oberen, also später relativ selbstständig arbeitenden oder leitenden, Arbeitskräfte herangezogen werden.
Daher wird eine wirklich kritische Hinterfragung dieser Gesellschaft und vor allem das Ziehen der Konsequenzen davon in der Schule und auch an den Unis auch nur für kleine, privilegierte Gruppen bzw. in Ausnahmesituationen, in denen die Grundlagen des bürgerlichen Staates unterminiert werden, letztlich in Situationen des Übergangs zu einer neuen Gesellschaftsformation stattfinden. Daher zählen wir das in erster Linie auch zu den Aufgaben der ArbeiterInnenbewegung und einer mit ihr verbundenen Jugendbewegung. Kritische Lehrerende werden sich immer bemühen, soweit das in ihrer Macht steht, systemkritische Ansätze zu vermitteln, aber wir denken, es ist eine Illusion, dies von einem auch noch so gut organisierten Schulsystem unter den Bedingungen der Kapitalverwertung zu erwarten oder auch zu verlangen.
Das traditionelle bürgerlich-humanistische Bildungskonzept, das stark auf Wilhelm von Humboldt zurück geht, hat die „Menschwerdung des Menschen" durch umfassende Persönlichkeitsbildung und damit das Ideal des an der Gesamtheit der Bildung teilhabenden Menschen zum Ziel. Das sind Ideale, die auch der Marxismus und die ArbeiterInnenbewegung formuliert haben. Aber das pädagogische Ziel des Humanismus geht weit darüber hinaus. Durch den besonders im Gymnasium erfolgenden Umgang mit den antiken Sprachen (Latein und Griechisch) und der klassischen griechisch-römischen Gedankenwelt sollen die geistigen Fähigkeiten der SchülerInnen zur Entfaltung gebracht und eine allgemeine Menschenbildung verwirklicht werden. Historisch gesehen ist das humanistische Gymnasium als Schule des gebildeten Bürgertums der konzentrierte Ausdruck des humanistischen Bildungsideals geworden. Diese Konzeption entstand vor dem Hintergrund der deutschen Philosophie, der Französischen Revolution und der Erfahrung des Zusammenbruchs des Ancien Régimes zu Beginn des 19. Jahrhunderts. So sehr Humboldt oder auch ein Jan Amos Komenský Voraussetzungen für spätere Konzepte schufen, so berufen wir uns als MarxistInnen doch mehr auf sozialistische PädagogInnen wie etwa Edwin Hörnle, Otto Rühle, Nadeschda Krupskaja oder Clara Zetkin.
Eine sozialistische Konzeption von Lernen und Bildung geht auch über bürgerliche Reformpädagogik hinaus. Dafür ist als erster Schritt eine grundlegende Kritik des kapitalistischen Bildungssystems notwendig. Neben Mathematik, Deutsch, Physik und anderen Fächern wird in der bürgerlichen Schule vor allem die Unterordnung unter die kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse gelehrt. Schon von klein auf sollen Kinder und Jugendliche für das kapitalistische System funktionstauglich gemacht werden. Sie müssen lernen zu kuschen, bürgerliche Autoritäten und Normen ungefragt zu akzeptieren. Außerdem wird ihnen ein Konkurrenz- und Leistungsdenken eingetrichtert, damit sie sich später als Arbeitskräfte am „freien Arbeitsmarkt" nicht gegen ihre Chefs, sondern gegen ihre KollegInnen behaupten. LehrerInnen tragen dazu bei, ihnen das beizubringen. Dem Schulsystem inhärent sind Repression gegenüber den SchülerInnen und die entsprechende Überwachungs- und Disziplinierungsfunktion der LehrerInnen.
Autoritäre Unterrichtsformen wie der Frontalunterricht werden zwar teilweise durch fortschrittlichere Lehrformen (z.B. Teamwork) abgelöst, und zweifellos gibt es auch viele progressive LehrerInnen, die ehrlich engagiert sind – tatsächlich können diese fortschrittlichen Elemente am grundsätzlich autoritären Charakter des bürgerlichen Schulsystems nichts ändern. Demokratie und Mitbestimmung werden von der herrschenden Klasse nur soweit geduldet, soweit ihre Herrschaftsverhältnisse dadurch nicht bedroht werden. Kritische „mündige" BürgerInnen stellen an sich noch kein Problem für die Herrschenden dar, solange sie kritische Fragen stellen und Kommentare abgeben. Problematischer wird es schon, wenn die KritikerInnen beginnen, sich selbst zu organisieren, um gegen die bestehenden Verhältnisse zu kämpfen.
Das bürgerliche Bildungssystem zeichnet sich dadurch aus, dass es die Kinder und Jugendlichen entsprechend ihrer sozialen Herkunft spaltet – und es sichert damit ein Stück weit die Erhaltung der Klassengesellschaft. Es ist kein Zufall, dass Kinder aus niederen sozialen Schichten kaum einen höheren Bildungsweg einschlagen, sich in der Schule oft schwerer tun etc. Das hat freilich nichts damit zu tun, dass diese Kinder dümmer wären; vielmehr wird ihnen viel weniger Förderung und Zuwendung zu teil, als das bei ihren AltersgenossInnen aus höheren sozialen Schichten der Fall ist. Die Eltern von ArbeiterInnenkindern haben zumeist schlichtweg nicht die Zeit (aufgrund ihrer eigenen Lebensgeschichte auch gar nicht das Verständnis dafür), sich am Nachmittag mit schulischen Problemen ihrer Kinder herumzuschlagen, auf ihre intellektuellen oder kulturellen Interessen einzugehen oder diese gar zu fördern. Die frühe Differenzierung des Schulsystems (in AHS und Hauptschule, Berufsschule, BHS, HTL etc.) tut ihr übriges, um die soziale Spaltung zu verstärken. Ein erster Schritt, um gegen die soziale Auslese durch das bürgerliche Schulsystem vorzugehen, besteht in der Schaffung einer Gesamtschule, in der alle SchülerInnen bis zur Matura gemeinsam lernen. Diese Einheitsschule soll außerdem eine Ganztagsschule sein, die auf die Bedürfnisse der SchülerInnen ausgerichtet ist. Neben Freizeitangeboten soll dabei auch die Möglichkeit für gratis Nachhilfe am Nachmittag bestehen.
Das bürgerliche Schulsystem ist neben seiner Form natürlich auch vom Inhalt her den Erfordernissen des kapitalistischen Systems angepasst. In erster Linie wird die herrschende Ideologie verbreitet. Scheinbar kritische Inhalte werden innerhalb des Systemrahmens besprochen. Zunehmend werden Lehrinhalte von privaten Unternehmen entsprechend deren Interessen vorgegeben (Kooperationen, Sponsoring...).
Das bürgerliche Schulsystem hat eine weitere wichtige Aufgabe innerhalb des Kapitalismus: Es sorgt für die Trennung von Kopf- und Handarbeit. Die Gesellschaft wird in jene Menschen gespalten, die „höherwertige" geistige Arbeit, und in jene, die „minderwertige" körperliche Arbeit verrichten. Nur wer den entsprechenden sozialen Background und – was damit zusammenhängt – intellektuell das Zeug dazu hat, kann ins Gymnasium, an die Universität etc. gehen und „Kopfarbeiter" werden. Für alle anderen gibt es die „Möglichkeit", nach einer qualitativ schlechten Kurzausbildung an der Schule (das Polytechnikum) eine Lehre zu absolvieren. Neben dem Aspekt der sozialen Auslese, der hinter der Trennung in Hand- und KopfarbeiterInnen steht, gibt es auch jenen der Begrenztheit der geistigen Wissenschaft durch ihre Abtrennung von der Praxis. Praktisches („minderwertiges") Wissen existiert isoliert vom wissenschaftlichen Wissen, dabei geht natürlich ein enormes Wissenspotenzial verloren.
Um gegen diese Trennung zu kämpfen, bedarf es Schulen und Universitäten, die gleichermaßen theoretische und praktische Lerninhalte vermitteln und die Jugendlichen allseitig, also sowohl theoretisch als auch handwerklich ausbilden. Das hat jetzt nichts mit berufsbildenden Schulen oder Fachhochschulen zu tun, die zumeist verschulter sind und für die Wirtschaft einen Fortschritt in Sachen Effizienz und Verwaltbarkeit darstellen. Besonders in den Schulen ist eine möglichst breite Ausbildung in Theorie und Praxis erforderlich. Das Ziel dabei ist nicht, bestimmte Techniken zu perfektionieren, sondern einen Einblick in das System von industrieller und landwirtschaftlicher Produktion, Infrastruktur und Dienstleistungsbetrieben zu gewinnen. Das beinhaltet natürlich auch, bestimmte Arbeitserfahrungen in Betrieben machen zu können, wobei die Leistung für den Betrieb kein Kriterium sein darf.
Nach der Schule wird die ideologische Formung durch die Ausbildung zwar indirekter, sie bleibt aber auch auf der Uni, Fachhochschule etc. bestehen. Gewisse Elemente, wie z.B. die soziale Auslese oder die Trennung der Hand- und Kopfarbeit werden hier sogar noch weiter verstärkt. Es geht vor allem um eine an den Interessen der UnternehmerInnen ausgerichtete Ausbildung von „ExpertInnen". Die angebliche Freiheit der Bildung und der Meinung verkommt in der Realität (Zugangsbeschränkungen, generelles Funktionieren des Wissenschaftsapparates...) zu einer Lächerlichkeit. Es geht hier auch gar nicht darum, neues Wissen per se zu schaffen, sondern um für die Herrschenden notwendiges Wissen. Das gilt sowohl auf theoretischer (etwa naturwissenschaftliche Forschung), praktischer (etwa Medizin oder Wirtschaftswissenschaften) als auch auf ideologischer Ebene (etwa den Sozialwissenschaften).
So sehr wir das bürgerliche Schulsystem bekämpfen müssen, so sehr müssen wir für das Recht und die Möglichkeit eines jeden Menschen eintreten, eine umfassende Schulausbildung zu erhalten. Schulgeld und Studiengebühren, Zugangsbeschränkungen, Privatschulen und Privatuniversitäten lehnen wir daher vehement ab – genauso wie alle Einsparungen der KapitalistInnen bei der Bildung, die sich in Kürzungen von LehrerInnenstellen, in einer Hebung der Klassenschülerhöchstzahlen, in der Streichung von IntegrationslehrerInnen ausdrücken.
Wir sind gegen das Kuschen und kämpfen im Ausbildungssystem für Selbstorganisierung, Engagement, Eigeninitiativen und solidarisches Handeln. Und das freilich nicht nur innerhalb eines bestimmten, von oben vorgegebenen Rahmens, wo sie sich quasi „austoben" können. SchülerInnen sollen nicht nur die Möglichkeit haben kreative Gedankenexperimente innerhalb des Klassenzimmers zu machen, sondern das Recht, die Gesellschaft, konkret ihr Schulsystem, real mitzuorganisieren.
Das alles sind sinnvolle und notwendige Übergangsmaßnahmen, mit denen das reaktionäre Ausbildungssystem zurückgedrängt und durch demokratischere Formen der Schule ersetzt werden soll. An eine klassenlose Gesellschaft, wie wir sie als MarxistInnen anstreben, stellen wir allerdings weiter gehende Ansprüche. Denn entsprechend dem Grundsatz, dass niemand ausschließlich lernen, niemand ausschließlich arbeiten sollen, muss auch der Ort des Lernens in einer kommunistischen Gesellschaft einen grundsätzlich anderen Charakter tragen als den einer noch so demokratischen Schule.
Schule setzt die Trennung des Lernens und dessen Abspaltung von der Gesellschaft voraus. Die Perspektive, die sich nicht von selbst naturwüchsig ergeben wird, sondern auf die mit gezielten Maßnahmen bewusst hingearbeitet werden muss, kann daher nur in der letztendlichen Auflösung der Institution Schule in Orte lebenslangen Lernens liegen. Ebenso wenig wie Schulen wird die klassenlose Gesellschaft auch Berufe, die wir einmal erlernen und dann ein Leben lang ausüben, mehr kennen. An die Stelle von LehrerInnen und ErzieherInnen werden Personen treten, die – neben völlig anderen Tätigkeiten – ihr Wissen und ihre Erfahrungen an die Lernwilligen, ob jung oder alt, weitergeben. Über die notwendigen pädagogischen Fähigkeiten wird dann ein immer größerer Teil der Gesellschaft verfügen. Und so, wie eine sozialistische Gesellschaft ein Interesse daran hat, dass möglichst alle Erwachsenen neben der gesellschaftlich notwendigen Arbeit die Möglichkeiten von Bildung und Weiterbildung auch wahrnehmen, werden auch Kinder und Jugendliche nicht ausschließlich zum Lernen angehalten, sondern ebenso möglichst frühzeitig und ihrem Alter und ihrer Entwicklung entsprechend in die gesamtgesellschaftliche Produktion integriert werden. Das Lernen wird nicht nur nicht mehr nach fixen Stundenplänen und Schuljahren gestaltet werden, sondern sich mehr und mehr in die Gesellschaft zurück verlagern, eins werden mit einem Grundelement der klassenlosen Gesellschaft: Sich als Gesellschaft weiter zu entwickeln, Antworten zu finden auf bisher ungelöste Fragen und möglichst alle dazu zu befähigen, aktiv an der weiteren kollektiven Ausgestaltung der Gesellschaft teilzunehmen.
Maria Pachinger und Manfred Scharinger
05. November 2009
Die aktuellen Proteste an den österreichischen Unis sollten, so Teile des Establishments, als Anlass dienen, eine längst notwendige „Bildungsdebatte" anzustoßen. Wir wollen die Gelegenheit nützen zu einem grundsätzlichen Artikel über bürgerliche Bildungsideale und sozialistische Konzepte.
Schulen und Universitäten sind Strukturen des bürgerlichen Staates und von daher auch ein Ausdruck ebendieses Staates. So wie die Geschichte der Pflichtschule ohne das Klasseninteresse der Bourgeoisie nicht denkbar ist, wird auch in Zukunft in letzter Instanz das Schulsystem ein Ausdruck des Klassenstaates und jener Klasse, der dieser Staat verpflichtet ist und in dessen Interesse dieser agiert, bleiben müssen. Eine „kritische Erziehung" kann deshalb von MarxistInnen nicht den Schulen und Unis des bürgerlichen Staates überantwortet werden. Die bürgerliche Gesellschaft nützt die Schule systematisch als Ort, um Kinder und Jugendliche für das kapitalistische System funktionstauglich zu machen. Das geschieht nicht aus Jux und Tollerei, sondern ist notwendiger Teil eines funktionsfähigen kapitalistischen Schulbetriebs. An den Unis ist diese Disziplinierung indirekter, versteckter – und auch geringer, sollen hier doch die oberen, also später relativ selbstständig arbeitenden oder leitenden, Arbeitskräfte herangezogen werden.
Daher wird eine wirklich kritische Hinterfragung dieser Gesellschaft und vor allem das Ziehen der Konsequenzen davon in der Schule und auch an den Unis auch nur für kleine, privilegierte Gruppen bzw. in Ausnahmesituationen, in denen die Grundlagen des bürgerlichen Staates unterminiert werden, letztlich in Situationen des Übergangs zu einer neuen Gesellschaftsformation stattfinden. Daher zählen wir das in erster Linie auch zu den Aufgaben der ArbeiterInnenbewegung und einer mit ihr verbundenen Jugendbewegung. Kritische Lehrerende werden sich immer bemühen, soweit das in ihrer Macht steht, systemkritische Ansätze zu vermitteln, aber wir denken, es ist eine Illusion, dies von einem auch noch so gut organisierten Schulsystem unter den Bedingungen der Kapitalverwertung zu erwarten oder auch zu verlangen.
Das traditionelle bürgerlich-humanistische Bildungskonzept, das stark auf Wilhelm von Humboldt zurück geht, hat die „Menschwerdung des Menschen" durch umfassende Persönlichkeitsbildung und damit das Ideal des an der Gesamtheit der Bildung teilhabenden Menschen zum Ziel. Das sind Ideale, die auch der Marxismus und die ArbeiterInnenbewegung formuliert haben. Aber das pädagogische Ziel des Humanismus geht weit darüber hinaus. Durch den besonders im Gymnasium erfolgenden Umgang mit den antiken Sprachen (Latein und Griechisch) und der klassischen griechisch-römischen Gedankenwelt sollen die geistigen Fähigkeiten der SchülerInnen zur Entfaltung gebracht und eine allgemeine Menschenbildung verwirklicht werden. Historisch gesehen ist das humanistische Gymnasium als Schule des gebildeten Bürgertums der konzentrierte Ausdruck des humanistischen Bildungsideals geworden. Diese Konzeption entstand vor dem Hintergrund der deutschen Philosophie, der Französischen Revolution und der Erfahrung des Zusammenbruchs des Ancien Régimes zu Beginn des 19. Jahrhunderts. So sehr Humboldt oder auch ein Jan Amos Komenský Voraussetzungen für spätere Konzepte schufen, so berufen wir uns als MarxistInnen doch mehr auf sozialistische PädagogInnen wie etwa Edwin Hörnle, Otto Rühle, Nadeschda Krupskaja oder Clara Zetkin.
Eine sozialistische Konzeption von Lernen und Bildung geht auch über bürgerliche Reformpädagogik hinaus. Dafür ist als erster Schritt eine grundlegende Kritik des kapitalistischen Bildungssystems notwendig. Neben Mathematik, Deutsch, Physik und anderen Fächern wird in der bürgerlichen Schule vor allem die Unterordnung unter die kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse gelehrt. Schon von klein auf sollen Kinder und Jugendliche für das kapitalistische System funktionstauglich gemacht werden. Sie müssen lernen zu kuschen, bürgerliche Autoritäten und Normen ungefragt zu akzeptieren. Außerdem wird ihnen ein Konkurrenz- und Leistungsdenken eingetrichtert, damit sie sich später als Arbeitskräfte am „freien Arbeitsmarkt" nicht gegen ihre Chefs, sondern gegen ihre KollegInnen behaupten. LehrerInnen tragen dazu bei, ihnen das beizubringen. Dem Schulsystem inhärent sind Repression gegenüber den SchülerInnen und die entsprechende Überwachungs- und Disziplinierungsfunktion der LehrerInnen.
Autoritäre Unterrichtsformen wie der Frontalunterricht werden zwar teilweise durch fortschrittlichere Lehrformen (z.B. Teamwork) abgelöst, und zweifellos gibt es auch viele progressive LehrerInnen, die ehrlich engagiert sind – tatsächlich können diese fortschrittlichen Elemente am grundsätzlich autoritären Charakter des bürgerlichen Schulsystems nichts ändern. Demokratie und Mitbestimmung werden von der herrschenden Klasse nur soweit geduldet, soweit ihre Herrschaftsverhältnisse dadurch nicht bedroht werden. Kritische „mündige" BürgerInnen stellen an sich noch kein Problem für die Herrschenden dar, solange sie kritische Fragen stellen und Kommentare abgeben. Problematischer wird es schon, wenn die KritikerInnen beginnen, sich selbst zu organisieren, um gegen die bestehenden Verhältnisse zu kämpfen.
Das bürgerliche Bildungssystem zeichnet sich dadurch aus, dass es die Kinder und Jugendlichen entsprechend ihrer sozialen Herkunft spaltet – und es sichert damit ein Stück weit die Erhaltung der Klassengesellschaft. Es ist kein Zufall, dass Kinder aus niederen sozialen Schichten kaum einen höheren Bildungsweg einschlagen, sich in der Schule oft schwerer tun etc. Das hat freilich nichts damit zu tun, dass diese Kinder dümmer wären; vielmehr wird ihnen viel weniger Förderung und Zuwendung zu teil, als das bei ihren AltersgenossInnen aus höheren sozialen Schichten der Fall ist. Die Eltern von ArbeiterInnenkindern haben zumeist schlichtweg nicht die Zeit (aufgrund ihrer eigenen Lebensgeschichte auch gar nicht das Verständnis dafür), sich am Nachmittag mit schulischen Problemen ihrer Kinder herumzuschlagen, auf ihre intellektuellen oder kulturellen Interessen einzugehen oder diese gar zu fördern. Die frühe Differenzierung des Schulsystems (in AHS und Hauptschule, Berufsschule, BHS, HTL etc.) tut ihr übriges, um die soziale Spaltung zu verstärken. Ein erster Schritt, um gegen die soziale Auslese durch das bürgerliche Schulsystem vorzugehen, besteht in der Schaffung einer Gesamtschule, in der alle SchülerInnen bis zur Matura gemeinsam lernen. Diese Einheitsschule soll außerdem eine Ganztagsschule sein, die auf die Bedürfnisse der SchülerInnen ausgerichtet ist. Neben Freizeitangeboten soll dabei auch die Möglichkeit für gratis Nachhilfe am Nachmittag bestehen.
Das bürgerliche Schulsystem ist neben seiner Form natürlich auch vom Inhalt her den Erfordernissen des kapitalistischen Systems angepasst. In erster Linie wird die herrschende Ideologie verbreitet. Scheinbar kritische Inhalte werden innerhalb des Systemrahmens besprochen. Zunehmend werden Lehrinhalte von privaten Unternehmen entsprechend deren Interessen vorgegeben (Kooperationen, Sponsoring...).
Das bürgerliche Schulsystem hat eine weitere wichtige Aufgabe innerhalb des Kapitalismus: Es sorgt für die Trennung von Kopf- und Handarbeit. Die Gesellschaft wird in jene Menschen gespalten, die „höherwertige" geistige Arbeit, und in jene, die „minderwertige" körperliche Arbeit verrichten. Nur wer den entsprechenden sozialen Background und – was damit zusammenhängt – intellektuell das Zeug dazu hat, kann ins Gymnasium, an die Universität etc. gehen und „Kopfarbeiter" werden. Für alle anderen gibt es die „Möglichkeit", nach einer qualitativ schlechten Kurzausbildung an der Schule (das Polytechnikum) eine Lehre zu absolvieren. Neben dem Aspekt der sozialen Auslese, der hinter der Trennung in Hand- und KopfarbeiterInnen steht, gibt es auch jenen der Begrenztheit der geistigen Wissenschaft durch ihre Abtrennung von der Praxis. Praktisches („minderwertiges") Wissen existiert isoliert vom wissenschaftlichen Wissen, dabei geht natürlich ein enormes Wissenspotenzial verloren.
Um gegen diese Trennung zu kämpfen, bedarf es Schulen und Universitäten, die gleichermaßen theoretische und praktische Lerninhalte vermitteln und die Jugendlichen allseitig, also sowohl theoretisch als auch handwerklich ausbilden. Das hat jetzt nichts mit berufsbildenden Schulen oder Fachhochschulen zu tun, die zumeist verschulter sind und für die Wirtschaft einen Fortschritt in Sachen Effizienz und Verwaltbarkeit darstellen. Besonders in den Schulen ist eine möglichst breite Ausbildung in Theorie und Praxis erforderlich. Das Ziel dabei ist nicht, bestimmte Techniken zu perfektionieren, sondern einen Einblick in das System von industrieller und landwirtschaftlicher Produktion, Infrastruktur und Dienstleistungsbetrieben zu gewinnen. Das beinhaltet natürlich auch, bestimmte Arbeitserfahrungen in Betrieben machen zu können, wobei die Leistung für den Betrieb kein Kriterium sein darf.
Nach der Schule wird die ideologische Formung durch die Ausbildung zwar indirekter, sie bleibt aber auch auf der Uni, Fachhochschule etc. bestehen. Gewisse Elemente, wie z.B. die soziale Auslese oder die Trennung der Hand- und Kopfarbeit werden hier sogar noch weiter verstärkt. Es geht vor allem um eine an den Interessen der UnternehmerInnen ausgerichtete Ausbildung von „ExpertInnen". Die angebliche Freiheit der Bildung und der Meinung verkommt in der Realität (Zugangsbeschränkungen, generelles Funktionieren des Wissenschaftsapparates...) zu einer Lächerlichkeit. Es geht hier auch gar nicht darum, neues Wissen per se zu schaffen, sondern um für die Herrschenden notwendiges Wissen. Das gilt sowohl auf theoretischer (etwa naturwissenschaftliche Forschung), praktischer (etwa Medizin oder Wirtschaftswissenschaften) als auch auf ideologischer Ebene (etwa den Sozialwissenschaften).
So sehr wir das bürgerliche Schulsystem bekämpfen müssen, so sehr müssen wir für das Recht und die Möglichkeit eines jeden Menschen eintreten, eine umfassende Schulausbildung zu erhalten. Schulgeld und Studiengebühren, Zugangsbeschränkungen, Privatschulen und Privatuniversitäten lehnen wir daher vehement ab – genauso wie alle Einsparungen der KapitalistInnen bei der Bildung, die sich in Kürzungen von LehrerInnenstellen, in einer Hebung der Klassenschülerhöchstzahlen, in der Streichung von IntegrationslehrerInnen ausdrücken.
Wir sind gegen das Kuschen und kämpfen im Ausbildungssystem für Selbstorganisierung, Engagement, Eigeninitiativen und solidarisches Handeln. Und das freilich nicht nur innerhalb eines bestimmten, von oben vorgegebenen Rahmens, wo sie sich quasi „austoben" können. SchülerInnen sollen nicht nur die Möglichkeit haben kreative Gedankenexperimente innerhalb des Klassenzimmers zu machen, sondern das Recht, die Gesellschaft, konkret ihr Schulsystem, real mitzuorganisieren.
Das alles sind sinnvolle und notwendige Übergangsmaßnahmen, mit denen das reaktionäre Ausbildungssystem zurückgedrängt und durch demokratischere Formen der Schule ersetzt werden soll. An eine klassenlose Gesellschaft, wie wir sie als MarxistInnen anstreben, stellen wir allerdings weiter gehende Ansprüche. Denn entsprechend dem Grundsatz, dass niemand ausschließlich lernen, niemand ausschließlich arbeiten sollen, muss auch der Ort des Lernens in einer kommunistischen Gesellschaft einen grundsätzlich anderen Charakter tragen als den einer noch so demokratischen Schule.
Schule setzt die Trennung des Lernens und dessen Abspaltung von der Gesellschaft voraus. Die Perspektive, die sich nicht von selbst naturwüchsig ergeben wird, sondern auf die mit gezielten Maßnahmen bewusst hingearbeitet werden muss, kann daher nur in der letztendlichen Auflösung der Institution Schule in Orte lebenslangen Lernens liegen. Ebenso wenig wie Schulen wird die klassenlose Gesellschaft auch Berufe, die wir einmal erlernen und dann ein Leben lang ausüben, mehr kennen. An die Stelle von LehrerInnen und ErzieherInnen werden Personen treten, die – neben völlig anderen Tätigkeiten – ihr Wissen und ihre Erfahrungen an die Lernwilligen, ob jung oder alt, weitergeben. Über die notwendigen pädagogischen Fähigkeiten wird dann ein immer größerer Teil der Gesellschaft verfügen. Und so, wie eine sozialistische Gesellschaft ein Interesse daran hat, dass möglichst alle Erwachsenen neben der gesellschaftlich notwendigen Arbeit die Möglichkeiten von Bildung und Weiterbildung auch wahrnehmen, werden auch Kinder und Jugendliche nicht ausschließlich zum Lernen angehalten, sondern ebenso möglichst frühzeitig und ihrem Alter und ihrer Entwicklung entsprechend in die gesamtgesellschaftliche Produktion integriert werden. Das Lernen wird nicht nur nicht mehr nach fixen Stundenplänen und Schuljahren gestaltet werden, sondern sich mehr und mehr in die Gesellschaft zurück verlagern, eins werden mit einem Grundelement der klassenlosen Gesellschaft: Sich als Gesellschaft weiter zu entwickeln, Antworten zu finden auf bisher ungelöste Fragen und möglichst alle dazu zu befähigen, aktiv an der weiteren kollektiven Ausgestaltung der Gesellschaft teilzunehmen.
Maria Pachinger und Manfred Scharinger