15. September 2002
Einen "Politikwechsel" fordert ATTAC und will damit dem Neoliberalismus den Garaus machen. Dieser sei nämlich keineswegs alternativlos und solle durch eine "ökologische und soziale Weltwirtschaftsordnung" ersetzt werden - so die im Mai 2002 beschlossene Plattform von ATTAC-Deutschland. Beklagt wird, dass mit dem Neoliberalismus die Global Players die "Demokratie untergraben" und die Politik dominieren. Deshalb will ATTAC die "demokratische Kontrolle und Regulierung der internationalen Märkte" (Selbstdarstellung auf ATTAC-website). Die Politik müsse sich an den Leitlinien von Gerechtigkeit und Demokratie ausrichten und so die Ungleichheit im Kapitalismus "ausgleichen" - an eine Beseitigung des kapitalistischen Weltsystems ist offenbar nicht gedacht.
Angestrebt werden stattdessen eine "gleichberechtigte internationale Zusammenarbeit" und "Demokratie für alle Menschen". Zu diesem Zweck setzt sich ATTAC ein für "internationale Institutionen, (...) die nicht den Interessen von Industrieländern, Konzernen und korrupten Eliten dienen" (Plattform). Nachdem sich James Tobin vor einem Jahr im Spiegel abfällig über die ATTAC-Ideen zur "Weltverbesserung" geäußert hatte, hatten die ATTAC-Sprecher in der Antwort sogar beteuert, dass WTO, IWF und Weltbank - nach einer grundlegenden Reform - "theoretisch durchaus geeignete Institutionen" für die Umsetzung der ATTAC-Politik seien. Hinter diesen rührigen Illusionen steckt einerseits ein völliges Unverständnis für die Bewegungsgesetze der kapitalistischen Produktionsweise und das Funktionieren von einem Staat in einer Klassengesellschaft, andererseits eine falsche Einschätzung der kapitalistischen Entwicklung im 20. Jahrhundert.
"Demokratie" und Keynesianismus
Über den Staat sind zwar insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den reichsten Ländern verschiedene (erkämpfte) Zugeständnisse an die Lohnabhängigen verteilt worden. Die alte sozialdemokratische Hoffnung, den vorhandenen Staat im Kapitalismus - als eine angeblich über den Klassen stehende neutrale Institution - auch für die eigenen Zwecke in Betrieb nehmen zu können, hat sich schon in der Vergangenheit (1. Weltkrieg, Faschismus, chilenische Volksfront...) als verhängnisvoll erwiesen. Und auch heute richten sich die Angriffe des Kapital nur gegen sozialstaatliche Errungenschaften; das Kerngeschäft des Staates (Polizei, Armee, Justiz) wird weiter ausgebaut, ist von der Bevölkerung abgehoben und in ihrer ganzen Struktur existenziell an die herrschende Klasse gebunden.
Die bürgerliche Demokratie ist zwar die bevorzugte Herrschaftsform der Bourgeoisie, weil sie sich teilweise auf den Konsens von herrschender und beherrschter Klasse stützt. Auf autoritäre Herrschaftsformen setzt sie dann, wenn sie es zur Sicherung ihrer Profite auf Kosten der Lohnabhängigen für notwendig erachtet. Dafür sind dann nicht nur Global Players und Standortwechsel verantwortlich, sondern auch schwächere - und deshalb oft noch krisengeschütteltere - Kapitalgruppen. Dass die Regimes in den halbkolonialen Ländern in der Regel am undemokratischten sind, liegt nicht an der einen oder anderen Standortverlagerung, sondern daran, dass die herrschende Klasse dort weniger Brosamen zu verteilen hat. Gerade wenn man wie ATTAC Illusionen in eine klassenunspezifische Demokratie im Kapitalismus und damit in die formale bürgerliche Demokratie hat, müsste man eigentlich zu dem Ergebnis kommen, dass sich die Zahl "demokratischer" Regimes in den letzten 15 Jahren deutlich erhöht hat!?
Zumindest implizit betreibt ATTAC eine Idealisierung einer angeblich so viel demokratischeren vor-neoliberalen Zeit. In der Realität hat jedoch immer das Großkapital die "Politik diktiert" und von seinem Staat exekutieren lassen. Zurück in die Erinnerung mancher altlinker ATTAC-Anführer seien einige Highlights keynesianistischer Demokratie gerufen: in den USA die McCarthy-Ära in den 1950er Jahren und später die brutale Repression gegen linke Vietnamkriegsgegner.innen und gegen afroamerikanische Organisationen, in Frankreich der mörderische Einsatz von Spezialpolizei im Mai 1968 und bonapartistisch-autoritäre Tendenzen unter de Gaulle, in Italien die geheimdienstlich-faschistische "Strategie der Spannung", in Deutschland Repression und Berufsverbote gegen die 68er-Linke, in Portugal, Spanien und Griechenland Militärdiktaturen bis Mitte der 1970er Jahre.
Tatsächlich waren die - im Vergleich zur Zwischenkriegszeit und zu den imperialisierten Ländern - relativ demokratischen Verhältnisse und der soziale Wohlstand in der Metropolen und insgesamt der lange Boom nach 1945 nicht Ergebnis eines staatlichen Interventionismus. Umgekehrt waren der keynesianische Staatsinterventionismus und die sozialen Reformen nur möglich auf der Basis des Booms. Der Boom wiederum war das Ergebnis der Kapitalvernichtung des 2. Weltkrieges, der sanierte Profitraten und der Herausbildung der USA zur imperialistischen Hegemonialmacht. Das auf der Grundlage von 55 Millionen Toten stabilisierte und florierende kapitalistische Weltsystem hatte nun Spielraum für Zugeständnisse an die Arbeiter.innen.klasse.
Der Staatsinterventionismus war Ausdruck der damaligen Bedürfnisse des Kapitals, der von ATTAC favorisierte Keynesianismus in Mode als es über 20 Jahre keine substantielle zyklische Krise gab. Als in den 1970er Jahren die Profitraten wieder zu fallen begannen, erwies sich der Keynesianismus als für die Problembehebung ungeeignet. In der Folge wurde die wirtschaftspolitische Umsetzung dieser Schule der bürgerlichen Nationalökonomie rasch über Bord geworfen und durch den Neoliberalismus abgelöst. Das war - da ist der ATTAC-Selbstdarstellung schon zuzustimmen - kein "alternativloser Sachzwang". Es war und ist aber auch nicht - wie die ATTAC-Autor.inn.en glauben - "reine Ideologie". Die aktuellen Bedürfnisse der Kapitalakkumulation führten zur neoliberalen Wende und nicht etwa Dummheit oder Sadismus seitens des Establishments - wie das etwa von Pierre Bourdieu, den globalisierungskritischen Bestsellerautoren Hans-Peter Martin und Harald Schumann oder auch von vielen ATTAC-Texten suggeriert wird.
Wohlfahrtsstaat und Tobin Tax
Wenn Christophe Aguitton von ATTAC-Frankreich bei der Anti-WEF-Konferenz in Salzburg 2001 referierte, dass der Kapitalismus seine Probleme gelöst habe und es jetzt darum gehe, dass auch die Menschen davon profitieren, wenn ATTAC-Deutschland für eine "andere Politik" zur "gerechten Verteilung" des Reichtums eintritt, dann werden hier zwei Dinge überhaupt nicht kapiert. Erstens gehört schon eine ziemliche Ignoranz dazu, die Probleme des kapitalistischen Weltsystems, die ja nicht aus Jux und Tollerei betriebene verschärfte internationale Konkurrenz, die fortgesetzte Krise in Japan, die Lage in den südostasiatischen ehemaligen Zukunftsmodellen, die Einbrüche in Schwellenländern wie Türkei, Russland, Argentinien oder Brasilien, die Konjunkturflaute in den USA und der EU einfach nicht zur Kenntnis zu nehmen.
Wenn in der ATTAC-Plattform anklagend festgestellt wird, dass die neoliberale Globalisierung nicht den versprochenen Wohlstand für alle gebracht habe, dann ist das zwar richtig, es schimmert aber auch die Vorstellung durch, dass gerechte Verteilung und Wohlstand für alle ein tatsächlicher Zweck der kapitalistischen Produktionsweise wäre. Das ist entweder eine ziemliche Naivität oder eine "pädagogische" Verarschung der Leser.innen. Hauptzweck der Marktwirtschaft ist der Reichtum für die Kapitalist.innen.klasse, die Anhäufung von Kapital und die Aufrechterhaltung dieser Ausbeuterordnung. Den grundlegenden Mechanismen von Akkumulation und Konkurrenz ist dabei auch die herrschende Klasse selbst unterworfen. Wohlstand für größere Teile der Lohnabhängigen sind im Kapitalismus bestenfalls eine vorübergehende und regional begrenzte Zugabe.
Angesichts der zunehmenden Widersprüche im globalen imperialistischen System gibt es immer weniger Platz für Reformen bzw. steigt der Druck zu Gegenreformen. Das heißt nicht, dass - durch harte Klassenkämpfe, nicht durch nette Verhandlungen mit dem Kapital und seinen Regierungen - nicht die eine oder andere Abwehr von neoliberalen Attacken oder sogar die eine oder andere Verbesserungen möglich wäre. Es heißt aber, dass solche Erfolge immer schwerer zu stabilisieren sind. Ein gutes Beispiel dafür ist in jüngster Zeit Griechenland, wo es den Lohnabhängigen im Frühjahr 2001 gelungen ist, durch einen Generalstreik massive Angriffe auf das Sozial- und Pensionssystem abzuwehren, wo die sozialdemokratische PASOK-Regierung nach einem zeitweiligen Rückzug nun aber den nächsten Versuch in die gleiche Richtung startet. Dort, wo die Arbeiter.innen.klasse dem Kapital zu heftig auf die Füße tritt, kann sie schnell mit einem Investitionsboykott, Kapitalabzug, Fabrikschließungen und anderen Erpressungen konfrontiert sein. Klassenkämpfe, konsequent geführt, stoßen damit schneller als früher an nationale Grenzen und an die Grenzen des System.
Damit konfrontiert ist auch die sogenannte Tobin-Tax, also die von ATTAC angestrebte Besteuerung internationaler Finanztransaktionen, um damit soziale und ökologische Maßnahmen zu finanzieren. Die "stärkere Besteuerung von Kapitaleinkünften und großen Vermögen" - wie es die Plattform von ATTAC-Deutschland fordert - ist natürlich an sich eine gute Sache, für die wir als Marxist.inn.en auch eintreten; die Frage ist nur, in welches politisches Programm und in welche Strategie sie eingebettet ist. Die ATTAC-Selbstdarstellung will "die Tobin-Steuer als Regulierungsinstrument zumindest EU-weit" haben, wundert sich über den "Widerstand der großen Geldbesitzer", ist aber stolz darauf, dass sich viele "Fachleute", NGOs, Kirchen und "prominente Politiker" dieser Forderung angeschlossen haben. Die ATTAC-Führung will eine stärkere Kapitalbesteuerung durch Überzeugung von Teilen der ökonomischen und politischen Eliten erreichen, dass das für das System vernünftig sei. Unverbindliche Zustimmung kam ja auch bereits vom französischen Ex-Premier Jospin, von Parlamentsmehrheiten z.B. in Kanada und gar dem Vize-Chef der österreichischen Kapitalist.inn.envereinigung Mitterlehner. Mit einer Appellpolitik an solche Kräfte kann eine Tobin-Tax nur ein Betrug werden - eine Betrug wie die 35-Stunden-Woche in Frankreich, die der Bourgeoisie mit derartigen Flexibilisierungen etc. abgekauft wurde, dass sie für die Lohnabhängigen zum Bumerang wurde. Eine grundlegende Veränderung der Besitz- und Einkommensverhältnisse in dieser Gesellschaft wird gemeinsam mit "prominenten Politikern" und bürgerlichen Parlamenten nicht zu machen sein, sondern nur gegen sie.
Protektionismus und Appellpolitik
ATTAC allerdings hat solches nicht vor. Ignacio Ramonet, Chefredakteur von Le Monde Diplomatique und ATTAC-Gründer, erklärte bereits im März 2000 in einem Interview, er habe "nicht die Absicht, dem Kapitalismus zu schaden, sondern ihn durch den Kampf gegen den Freihandel zu stabilisieren". In dieses Andienen als vermeintlich weitsichtigere Ratgeberin für die herrschende Klasse mischt sicht bei der ATTAC-Führung auch eine gehörige Portion Protektionismus: Bereits eine frühe Erklärung von ATTAC-Frankreich beklagte, die "Globalisierung demütigt die Nationalstaaten", und sprach sich "gegen jede weitere Preisgabe staatlicher Souveränität" (der bürgerlichen Staaten!) aus. Auf der website von ATTAC-Deutschland wird uns mitgeteilt, dass es den ATTAC-Mitgliedern missfällt, dass "von den hundert größten Wirtschaftseinheiten der Welt 51 Industriebetriebe sind und nur 49 Staaten". Und J. Berthelot hat sich im Frühjahr 2000 in Le Monde Diplomatique sogar für Zollbarrieren zwischen den regionalen Wirtschaftsblöcken ausgesprochen und die EU aufgefordert, "ihren Markt vor billigen Rohstoffen von außerhalb" zu schützen.
Das scheint doch etwas im Widerspruch zum ATTAC-Eintreten für die halbkolonialen Länder. Allerdings ist auch da die Plattform von ATTAC-Deutschland alles andere als radikal: Gefordert wird die "Lösung der Schuldenkrise der Entwicklungsländer, die Beendigung der neoliberalen Strukturanpassung sowie die Ablösung der Diktatur der Gläubiger durch ein faires und transparentes Verfahren". Auch hier bleibt ATTAC ganz im Rahmen des Systems, das - scheinbar an sich ganz in Ordnung - lediglich von unfairen und undurchsichtigen Machenschaften befreit werden soll. Die "Ablösung" der "Gläubiger" und des imperialistischen Ausbeutungssystem steht für ATTAC offensichtlich auch bei diesem Punkt nicht zur Debatte, ja nicht einmal die völlige Streichung der Auslandschulden der imperialisierten Länder.
Freilich finden sich in der ATTAC-Plattform auch Forderungen, die schon ganz in Ordnung sind: für bessere Löhne und Arbeitsrechte, gegen die Privatisierung öffentlicher Dienste, für die Schließung von Steueroasen. Doch auch in der Steuerfrage finden sich immer wieder beschwichtigende Phrasen, die von jedem Mainstream-Politiker stammen könnten: "Deshalb setzen wir uns (...) für eine solidarische Steuerpolitik ein, bei der jeder nach seinem wirtschaftlichen Leistungsvermögen beurteilt wird" (ATTAC-Selbstdarstellung). Das Kapital soll anscheinend nicht verprellt, sondern zu einer gemäßigten Ausbeutung überredet werden.
Wie die "internationalen Institutionen", die "nicht den Interessen von Konzernen und korrupten Eliten dienen", zustande kommen sollen, verrät uns ATTAC natürlich nicht - es müsste sich ja auch um seltsame Institutionen handeln, die einerseits in diesem Weltsystem die Macht zur Durchsetzung ihrer Absichten haben und die gleichzeitig darauf verzichten, die Interessen der herrschenden Klasse zu vertreten.
Was ATTAC selbst zu tun gedenkt, um dieses bemerkenswerte Ziel zu erreichen, wird auch nur diffus angedeutet. Die neue, sozial gerechte und ökologische Weltwirtschaftordnung sei - so die Plattform - "nur durchsetzbar, wenn es eine starke, international handelnde gesellschaftliche Bewegung gibt". So richtig das in dieser Allgemeinheit ist, ein Bruch mit dem Kapitalismus, eine Zerschlagung der bürgerlichen Repressionsapparate das sind alles offenbar keine Voraussetzungen für dieses doch ganz schön hohe ATTAC-Ziel. Die angesprochene Bewegung wird auch nicht näher ausgeführt, sondern lediglich festgestellt, dass sie sich zum Weltsozialforum in Porto Allegre entwickelt habe und dass ATTAC Teil dieser Bewegung sei. Und die Selbstdarstellung von ATTAC-Deutschland teilt mit, dass mit Vorträgen, Publikationen, "intensiver Pressearbeit" und Aktionen (offenbar nicht so intensiv, dafür aber "kreativ") "der notwendige Druck auf Politik und Wirtschaft zur Umsetzung der Alternativen erzeugt werden" soll. Das heißt: Etablierte "Politik und Wirtschaft" als Subjekt der Veränderung, angeschubst von ATTAC und seinem "wissenschaftlichen Beirat".
Die Ausrichtung von ATTAC ist im Kern eine Appellpolitik an das Establishment. Dass das kapitalistische System nicht angetastet werden soll, haben die führenden Figuren von ATTAC immer wieder klar gemacht, so z.B. Susan George auf dem 1. Weltsozialforum: "Es tut mir leid, es zuzugeben, aber ich habe nicht die geringste Ahnung, was "Sturz des Kapitalismus' im frühen 21. Jahrhundert bedeuten soll." Zu welchen Anteilen sich in dieser Aussage Zynismus, Ahnungslosigkeit und Kapitulation mischen, muss uns nicht wirklich interessieren. Wichtiger ist, dass George damit durchaus den ATTAC-Mainstream repräsentiert. Ignacio Ramonet sagte in einer Diskussion mit dem rechten ÷konomen Thomas Friedman folgendes:
"Um ihre Grundbedürfnisse zu erfüllen, sind Millionen Menschen rund um die Welt ohne Zweifel bereit, Barrikaden zu errichten und Gewalt anzuwenden. Ich bedauere eine solche Lösung ebenso sehr wie Friedman. Aber falls wir klug sind, sollte es nie soweit kommen. Warum sollen wir nicht einen winzigen Teil des Reichtums der Welt den "Verdammten dieser Erde' zur Verfügung stellen?" Dieser abstoßende Sozialchauvinismus eines privilegierten Kleinbürgers aus den imperialistischen Zentren wurde dann mit einer besorgten Frage abgerundet: "Was können wir tun? Wie halten wir die Hälfte der Menschheit davon ab, dass sie rebelliert und Gewalt anwendet?"
Hier stehen wir auf der anderen Seite der Barrikade. Ramonet sucht mit Friedman und seinesgleichen die besten Methoden, um die Ausgebeuteten davon abzuhalten, gegen den Kapitalismus zu rebellieren (und in etlichen Distanzierungen der ATTAC-Sprecher von radikaleren Teilen der globalisierungskritischen Bewegung hat das ja auch bereits seinen praktischen Ausfluss gefunden). Das Ziel von Marxist.inn.en ist es, diese Rebellion vorzubereiten, zu organisieren und zu einer Revolution weiterzutreiben.
ATTAC reformieren?
Es könnte nun jemand sagen: "OK, die Führer.innen von ATTAC sind elende prokapitalistische Drecksäcke. Es gibt in ATTAC aber auch andere Leute und mit ihnen gemeinsam kann ATTAC in eine antikapitalistische Kraft verwandelt werden." Dass es unter den ATTAC-Mitgliedern und -Aktivist.inn.en auch antikapitalistisch eingestellte gibt, ist sicherlich wahr. Wir glauben aber, dass die Perspektive, ATTAC zu reformieren, eine Illusion ist.
ATTAC ist eine Art Mischung aus Bündnis und Organisation mit Bewegungselementen - nach den divergierenden Angaben auf der ATTAC-website mit entweder 55.000 Mitgliedern in 30 Ländern oder 80.000 Mitglieder in 45 Ländern. Es ist ein klassenübergreifender Zusammenschluss, der laut stolzer Selbstdarstellung von ATTAC-Deutschland "von ver.di über den BUND und Pax Christi bis zu kapitalismuskritischen Gruppen" reicht. In den ATTAC-Gruppen seien "Menschen unterschiedlicher politischer und weltanschaulicher Herkunft" versammelt. In marxistischen Kategorien könnten wir von einer Volksfront sprechen.
Und wie bei einer klassischen Volksfront, wie sie von Sozialdemokratie und Stalinismus betrieben wurde und wird, verzichten auch in ATTAC die "linken" Kräfte auf eine klare klassenkämpferische Perspektive, um die bürgerlichen Kräfte an Bord zu halten. Das bedeutet, dass allein schon von Struktur und Charakter dieses Bündnisse her die bürgerlichen Kräfte politisch den Ton angeben müssen. Dort wo es eine Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften gibt, ist das keine klassenkämpferische Ausrichtung auf die Gewerkschaftsbasis, sondern ein Bündnis mit den reformistischen (ebenfalls prokapitalistischen) Gewerkschaftsbürokratien. Im Kern ist ATTAC ein Zusammenschluss von linksliberalen und exlinken Intellektuellen mit humanistischen Christ.inn.en, stalinistischen Resten und Gewerkschaftsbürokrat.inn.en, der sich nebenbei auch eine "Basis" hält, in der wiederum es etliche Antikapitalist.inn.en gibt.
Das Bündnis dieser Linken mit den prokapitalistischen Kräfte muss beim ersten ernsthaften Test entweder handlungsunfähig sein oder zerbrechen oder (was am wahrscheinlichsten ist) ATTAC wird sich gemeinsam mit den anderen Bewegungsbürokrat.inn.en von Porto Allegre etc. als Hindernis für die Weiterentwicklung einer antikapitalistischen Bewegung erweisen - und die Linken in ATTAC werden das ohnmächtig zur Kenntnis nehmen müssen.
Struktur und Zusammensetzung von ATTAC sind es auch, die eine Umwandlung in eine antikapitalistische Kraft verhindern werden. Die website von ATTAC-Deutschland informiert uns, dass bei ATTAC "eine theoretische Basis, eine Art Grundsatzprogramm nicht existiert" und dass es "keine Zentrale" gäbe, von wo aus Handlungsanweisungen erteilt werden". Da wird das Publikum für dumm verkauft, nicht nur weil es mittlerweile die erwähnte Plattform gibt, sondern v.a. weil ATTAC schon immer eine politische Linie gehabt hat - nämlich die oben beschriebene Appellpolitik an das Establishment. Und hinter der scheinbar losen und pluralistischen "Vernetzung" verstecken sich oft informelle hierarchische Strukturen, wo dann die Leute mit dem besten Medienzugang zu den realen Sprechern mutieren und die reale Macht in ATTAC haben. Selbst dort wo es transparenter zugeht, verkommen bei einer Organisation, bei der sich Mitgliedschaft nicht auf regelmäßige Aktivität auf einer tiefgehenden gemeinsamen politischen Grundlage stützt, oftmals große Teile der "Basis" zu Fans der "prominenten" und "medienwirksamen" Anführer. Angesichts dessen ist eine Reformierung von ATTAC unmöglich.
Nicht auszuschließen ist, dass die einen oder anderen Jugendlichen oder Lohnabhängigen, die es irgendwie zu ATTAC verschlagen hat, für eine antikapitalistische Perspektive gewonnen werden können. Deshalb kann es unter bestimmten Bedingungen lokal auch sinnvoll sein, sich in die Diskussionen in ATTAC-Gruppen einzumischen. Das darf dann aber nicht, wie es etliche Linke praktizieren, mit einer politischen Anpassung an den ATTAC-Mainstream oder gar einer tendenziellen politischen Auflösung in ATTAC einhergehen. Es muss vielmehr klar ausgesprochen werden, dass ATTAC eine prokapitalistische Strömung ist, ein Hindernis für den Aufbau einer antikapitalistischen Bewegung und dass es bei zugespitzteren Kämpfen noch deutlicher zu einem solchen Hindernis werden wird. Die zentrale Aufgabe ist es, die Antikapitalist.inn.en aus ATTAC für eine anderes politisches Projekt zu gewinnen, für den Aufbau einer revolutionären Kaderorganisation, die mit einer Orientierung auf die Lohnabhängigen versucht, gegenwärtige Kämpfe mit einer systemüberwindenden Perspektive zu verbinden.