Manfred Scharinger
Der Entwurf einer Verfassung und der entsprechende Verfassungsvertrag sollte für die Europäische Union ein entscheidender Integrationsschritt werden. Mit dem französischen und niederländischen Nein im Frühjahr 2005 und dem wenig erfolgreichen EU-Gipfel im Juni 2005 sind die Widersprüche innerhalb der EU offen zu Tage getreten. Ist die EU zum Scheitern verurteilt? Oder gibt es für die herrschenden Kreise Europas eine Möglichkeit, dieses Projekt weiterzuführen?
1. Die Europäische Union ist letztlich das historische Ergebnis zweier sich überschneidender Faktoren: einerseits der Blockkonfrontation von Imperialismus und Sowjetunion, und andererseits einer innerimperialistischen Blockbildung. Die USA drängten Frankreich, die führende Macht auf dem europäischen Kontinent, in den 1950er Jahren, Westdeutschland stärker politisch, ökonomisch und militärisch in ein westeuropäisches Bündnis zu integrieren. Die Konzerne der Bundesrepublik Deutschland waren so zwar nicht als innerimperialistische Konkurrenz auszuschalten, deren ökonomisches Potenzial konnte jedoch zur Entstehung und Festigung eines ökonomischen Blocks gegen die Sowjetunion und deren COMECON-Staaten genutzt werden. Dieses Projekt erwies sich als ökonomisch so stark und daher auch trag- und ausbaufähig, dass sich um die Gründerstaaten im Verlauf des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts die anderen westeuropäischen Länder anschließen mussten und sich sogar Großbritannien trotz seiner durch den Commonwealth eigenständigeren Position diesem Sog nicht entziehen konnten.
Ab den 1980er und vor allem seit dem Untergang der Sowjetunion in den 1990er Jahren wurde dieses Projekt dadurch ergänzt bzw. abgelöst, dass die am Kontinent dominierenden Imperialismen der Europäischen Gemeinschaft bzw. der Europäischen Union, Frankreich und das 1990 wieder vereinigte Deutschland, zunehmend eigene imperialistische Ansprüche formulierten, die sie mittels der EU umzusetzen trachteten, und für sie die schrittweise Emanzipation vom Einfluss der USA zu einer realen Perspektive zu werden begann. Im Unterschied zu Großbritannien sieht das Tandem Frankreich-Deutschland und in deren Gefolge deren engste Alliierte die Interessen ihrer Konzerne nicht mehr durch eine Unterordnung unter die USA als weltpolitische Ordnungsmacht am besten gewährleistet, sondern in der eigenständigen Durchsetzung ihrer Interessen, falls nötig, auch gegen den Willen der USA.
2. Das Projekt der Europäischen Einigung durch EWG, EG und EU ist also ein imperialistisches Projekt, in denen kapitalistische Nationalstaaten aus übergeordneten politisch-ökonomischen und zunehmend auch militärischen Erwägungen Teile ihrer Souveränität zugunsten einer supranationalen Institution aufgegeben haben. Dieser Prozess ist, trotz entgegenwirkender Tendenzen, die einen Rückgriff auf nationalstaatliche Ansprüche kultivieren, noch nicht an seinem Ende angelangt. Es gibt auch keine innere Schranke, die unter dem Druck der Konkurrenz ab einem gewissen Punkt eine immer weitere Annäherung bis zur Verschmelzung von kapitalistischen Nationalstaaten prinzipiell verunmöglichen würde.
Noch ist jedoch im Rahmen der Europäischen Union keine Aufgabe von Nationalstaaten in Sicht, sehr wohl aber eine weiter gehende Tendenz zur Abgabe von Souveränitätsrechten an eine supranationale Brüsseler EU-Bürokratie. Heute geht es den führenden Staaten der EU darum, gemeinsam eine verbesserte Wettbewerbs- und Konkurrenzfähigkeit zu erlangen und sich als Staatengruppe am kapitalistischen Weltmarkt gegenüber den USA und Ostasien besser zu positionieren, als dies jedem einzelnen Staat alleine möglich wäre. Abgerundet wird dies durch den Ausbau einer europäischen Militärmacht, die als militär-politischer Ordnungsfaktor die imperialistische Strategie absichern soll.
3. Der Prozess der europäischen Einigung ist dabei - auch wenn er seit den 1950er Jahren weit fortgeschritten ist - natürlich kein widerspruchsloser. Einerseits wirken hier Gegensätze innerhalb der EU, andererseits auch die Herausbildung der Konturen eines künftigen innerimperialistischen Machtkampfes. Das von Frankreich und Deutschland favorisierte Projekt einer Einigung Europas rund um die Achse Paris-Berlin wurde von Anfang an nicht von allen EG/EU-Mitgliedsländern geteilt. So konnte dieser Prozess zwar von Großbritannien mit seiner starken Bindung an die USA und seiner eigenen imperialistischen Einflusssphäre in Gestalt seines ehemaligen Kolonialreiches zwar nicht blockiert werden, aber Großbritannien konnte den Prozess verlangsamen und blieb dem Konzept eines Europa treu, das im Grunde einen Freihandelsraum darstellen sollte, und auch folgerichtig bei Projekten wie der Einheitswährung außerhalb. Die europäische Einigung ist daher auch kein irreversibler Prozess und trägt sowohl das Potenzial einer weiteren supra-staatlichen Vereinheitlichung auf kapitalistischer Basis als auch das eines Ausscherens einzelner Länder oder gar des Scheiterns des Gesamtprojektes in sich.
4. Die EG/EU war und ist ein neoliberales Projekt, das aus mehreren Faktoren heraus zu einer ungeschminkt kapitalfreundlichen Politik in der Lage und dazu sogar gezwungen ist: Einerseits befreite 1989/1990 die Implosion der Sowjetunion und die durch das Ende des mit der Oktoberrevolution begonnenen historischen Zyklus' die Regierungen der EU vor allzu großer Rücksichtnahme auf das eigene Proletariat. Die kapitalistische Konterrevolution in Osteuropa trug mit zum Abbau der während des langen Booms erreichten historischen Errungenschaften und zur Durchsetzung eines neoliberalen Modells in der EU bei.
Doch die Angriffe auf den sozialen Besitzstand der Massen haben eine weitere, eine tiefere Ursache: Mit dem Fortschreiten der Europäischen Einigung ergab sich nicht nur die Möglichkeit einer selbstbewussteren imperialistischen Politik der von der deutsch-französischen Achse geführten EG/EU, sondern auch die Notwendigkeit, diese Politik militärisch und vor allem auch ökonomisch abzusichern.
Das Kapital übte und übt daher steigenden Druck zur Senkung von Löhnen, Lohnnebenkosten und Sozialstandards aus, um die Wettbewerbssituation gegenüber den potenziellen imperialistischen Konkurrenten, Japan und vor allem USA, zu verbessern. Als Mittel dazu diente in den letzten eineinhalb Jahrzehnten der Maastrichter Vertrag von 1991, mit dem Kurs auf eine gemeinsame Währung genommen wurde und mit dessen Hilfe die europäischen Nationalstaaten in der Haushalts-, Steuer- und Sozialpolitik gegenüber den Massen die tiefen Einschnitte legitimier(t)en.
5. Die Osterweiterung war ein strategisches Interesse des europäischen und insbesondere des deutschen Kapitals. Die Einbeziehung von mittel- und osteuropäischen Ländern in die EU war dem Ziel der Schaffung eines Hinterhofs untergeordnet, der billige, hochqualifizierte Arbeitskräfte und neue Absatzmärkte bieten, dabei aber politisch stabil und dem Einfluss sowohl des US-Imperialismus als auch Russlands einigermaßen entzogen sein sollte. Mit der Osterweiterung hat das europäische Kapital den Prozess der ökonomischen Durchdringung Osteuropas festgeschrieben, der bereits seit der Endphase und dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der anderen degenerierten Arbeiter/innen/staaten in vollem Gange war.
6. Das Projekt der europäischen Einigung unter Dominanz der Konzerne ist inzwischen in eine neue Periode getreten. Unter deutsch-französischer Vorherrschaft konnte der Aufbau einer gemeinsamen Währung umgesetzt werden, mit dem Schengenraum wurde durch eine Reihe von EU-Kernländern der weitgehende Wegfall interner Grenzkontrollen, damit aber gleichzeitig auch eine rigide Abschottung nach außen vollzogen. Die Harmonisierung der Ausbeutungsbedingungen (de facto eine Nivellierung der Löhne und Sozialstandards nach unten) ist in vollem Gange.
Gleichzeitig aber sind im letzten Jahrzehnt die ökonomischen Spielräume sowohl für die Nationalstaaten als auch für die EU-Bürokratie substanziell enger geworden. Die seit Jahren und im Vergleich zum imperialistischen Hauptkonkurrenten USA schwächelnde Konjunktur mit Massenarbeitslosigkeit und Reallohnverlusten hat im Zusammenspiel mit einer die großen Unternehmen entlastenden Fiskalpolitik dazu geführt, dass immer weniger Haushaltsmittel zum Ausgleich der EU-Interessen zur Verfügung standen. In den 1900er Jahren ist der europäische Imperialismus, vor allem der dominante deutsche, gegenüber den USA zurückgeblieben - bis jetzt ist es den Führungen der großen europäischen Nationalstaaten nicht gelungen, das für das Kapital ungünstigere Kräfteverhältnis, das auch aus einer ungenügenden politischen, wirtschaftlichen und militärischen Vereinheitlichung resultiert, grundlegend zu verändern. Aus dem folgt u.a. auch ein weitaus geringeres militärisches Potenzial, die mangelnde Geschlossenheit der großen europäischen Kapitalgruppen und die sich in den letzten Jahren stark verringernden ökonomischen Spielräume in Europa.
Nicht durch den Beitritt der mittel- und osteuropäischen Staaten, sondern in erster Linie wegen der relativen Schwächen des europäischen Imperialismusmodells wurde es immer schwieriger, als Ausgleich für Zugeständnisse einzelner Nationalstaaten im EU-Einigungsprozess Geldmittel locker zu machen. Kompromisse konnten also seit Mitte der 1990er Jahre immer weniger durch Finanzzuwendungen erkauft werden. Das, was mit dem "Britenrabatt" Margaret Thatcher oder ganz allgemein Ländern wie Griechenland, Irland, Portugal oder Spanien gelungen war, nämlich überproportional große Anteile aus den EU-Töpfen für nationalstaatlich kontrollierte Entwicklungsprojekte zu lukrieren, scheint nun für die kommende Periode in großem Ausmaß und als Methode zur Überdeckung potenzieller Konfliktlinien definitiv ausgeschlossen zu sein.
7. Das (vorläufige) Scheitern der Verhandlungen für die kommende Periode des EU-Finanzhaushalts widerspiegelt diese enger werdenden Spielräume und den härter werdenden Verteilungskampf innerhalb der EU. Die Gefahr von Unbeweglichkeit und "Unregierbarkeit" einer EU, in der nach wie vor jedes Mitgliedsland gegen wichtige Gemeinschaftsentscheidungen sein Veto einlegen kann, muss mit den schärfer werdenden Widersprüchen zwischen den Mitgliedsländern und der (Ost-) Erweiterung der EU, die der Gemeinschaft gleich acht neue osteuropäische Mitglieder (plus Zypern und Malta) zuführte und die die Zahl an Mitgliedsstaaten bis 2007 auf 27 erhöhen soll, größer werden. In diesem Zusammenhang sollte ein neues Regelwerk die Dominanz der entscheidenden Kapitalgruppen in den EU-Kernländern verstärken und die Möglichkeiten des Ausscherens und Blockierens durch einzelne Staaten oder unkontrollierbare Bündnisse und unerwünschte Allianzbildungen innerhalb der EU selber möglichst weitgehend verhindern. Die EU-Verfassung wäre hier ein Ausweg gewesen.
Denn zwei Ereignisse zeigten drastisch die innere Schwäche der EU und deren unzureichende Vereinheitlichung: In den Kriegen am Balkan und vor allem im Krieg 1999 gegen Jugoslawien musste die EU in ihrem eigenen Hinterhof die Führung eindeutig den USA überlassen und sich mit einer Hilfsrolle begnügen. Die EU erwies sich als unfähig, am Balkan die imperialistische Ordnung, also die für normale Ausbeutungsbedingungen notwendige Stabilität und "Sicherheit", zu garantieren. Und im "Krieg gegen den Terrorismus" gelang es den USA, die innere Einheit der EU aufzubrechen und neben einer ganzen Reihe von osteuropäischen Beitrittsländern neben dem alten Verbündeten Großbritannien u.a. auch Italien und (kurzfristig) Spanien in die "Koalition der Willigen" mit einzubeziehen. Die deutsch-französische Führung ist sich bewusst, dass eine stärkere internationale Positionierung der EU und eine politische Vereinheitlichung immer notwendiger werden: Die desintegrativen Tendenzen, ein mögliches Ausscheren einzelner Staaten und ein generelles Auseinanderdriften sollte über eine Verfassung erreicht werden. Denn im globalen Wettlauf um Einflusszonen kann die EU als eigenständiger Player nur dann bestehen, wenn sie mit geeinter Stimme spricht und geschlossen nach außen handelt.
Genau dieses übergeordnete Ziel versuchte die Verfassung auch zu garantieren. Dabei ging es in keiner Weise um eine Festschreibung bestehender oder gar eine Ausdehnung künftiger demokratischer Rechte der EU in einem nebulosen "Grundwertekatalog", sondern um eine Absicherung der neoliberalen Errungenschaften für das Kapital, die Garantie einer gemeinsamen Außenpolitik und ein Erschweren des Ausscherens von kleineren Mitgliedern aus den von der deutsch-französischen Achse vorgegebenen Schwerpunkten in Innen- und Außenpolitik, im Aufbau eines gemeinsamen Repressionsapparates und einer schlagkräftigen, weltweit operierenden Interventionstruppe.
8. Das französische Non und das niederländische Nee haben diesen Ambitionen vorläufig einen Strich durch die Rechnung gemacht. Sie bedeuten einen empfindlichen Rückschlag für das Projekt eines von Deutschland und Frankreich geführten reaktionären imperialistischen EU-Blocks. Sie bedeuten aber nicht automatisch das Ende der weiteren Vereinheitlichungs-Tendenz und der weiteren Formierung eines europäischen imperialistischen Blocks. Die kommende Periode wird durch ein defensiveres Konzept einer Integration geprägt sein. Die europäische Verfassung wäre in der Lage gewesen, einen einheitlichen Rahmen für die Herausbildung eines EU-Blocks zu bilden. Nun wird statt dessen bis auf weiteres die Integration auf vielen verschiedenen Einzel-Ebenen vorangetrieben werden, ohne dass die grundlegenden Probleme, die eine Weiterentwicklung in Richtung auf einen einheitlichen EU-Block gefährden müssen, beseitigt wären.
Wahrscheinlich wird die Integration also auf der Ebene von Einzelverhandlungen weitergehen, die auf eine Harmonisierung der zur Zeit noch völlig unterschiedlichen Arbeits- und Sozialstandards, auf eine Koordinierung der europäischen Diplomatie, der polizeilichen Aufgaben und Wirkungsbereiche, den Ausbau eines vereinheitlichten Asylverfahrens usw. hinauslaufen werden. Auch die schrittweise Schaffung eines einheitlichen europäischen Dienstleistungsraumes, wie sie mit der Bolkestein-Richtlinie vorgelegt wurde, ist ebenso wenig vom Tisch wie eine verstärkte Aufrüstungspolitik und z.B. weitere gemeinsame Anstrengungen zur Herausbildung eines von den USA und der NATO unabhängigen EU-Militärkorps.
So zeigt etwa die Tatsache, dass gleichzeitig mit dem Scheitern der EU-Verfassung in der Frage der Aufnahme von Beitrittsgesprächen Einigkeit hergestellt werden konnte und die Verhandlungen über Assoziierungsabkommen und eine perspektivische Anbindung von Mazedonien, Bosnien-Herzegowina, Serbien-Montenegro und Albanien weitergeführt wurden, dass die EU-Bürokratie nach wie vor zu einer koordinierten Vorgangsweise auf der Ebene von Einzelfragen willens und in der Lage ist. Allerdings unterstreichen die in der Frage der Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu Tage getretenen Probleme die zunehmenden Widersprüche innerhalb der EU und die mangelnden Kapazitäten, mit dem derzeit geltenden EU-Regelwerk einen effektiven Ausgleich unterschiedlicher Interessen herbeizuführen.
9. Durch die Ablehnung des Verfassungsentwurfs ist die grundlegende Ausrichtung der führenden Kreise in der EU zwar behindert, aber nicht relativiert oder gar verunmöglicht worden. Die Europäische Union wird sich in der kommenden Periode aller Wahrscheinlichkeit nach vom Einstimmigkeitsprinzip verabschieden. Eine andere Möglichkeit zur Erhaltung der Handlungsfähigkeit (von einer Verstärkung der imperialistischen Handlungskompetenz gar nicht zu reden!) wird nur schwer zu finden sein. In der Verfassung war an Stelle des durchgängigen Vetorechts, über das die Mitgliedsstaaten zur Zeit in vielen Sektoren verfügen, das System der qualifizierten doppelten Mehrheiten vorgesehen - eine Minderheit von Staaten sollte bestimmte Gesetzesvorhaben dann nicht mehr blockieren können, wenn sie weniger als 40 Prozent der Einwohner/innen der EU gestellt hätten. Dies hätte den entscheidenden Staaten Deutschland und Frankreich mit ihren engsten Verbündeten eine entscheidende Macht gegeben, mit ihren zahlenmäßig starken Bevölkerungen im Rücken ihre Interessen auch gegen den Willen einzelner "widerspenstiger" Regierungen durchzusetzen.
Die dominanten Machtgruppen in der EU werden jetzt andere Möglichkeiten finden müssen, um ihre Interessen wirkungsvoll zu verteidigen. Die Entwicklung, die sich im Gefolge der Einführung des Euro und des Schengen-Raumes bereits ergeben hat, wird sich aller Voraussicht nach in der kommenden Periode verstärken: Dass nämlich die deutsch-französische Achse (und die Möglichkeiten einer Aufrechterhaltung dieses Zweckbündnisses bestehen auch weiterhin) schneller in der Integration voranschreitet, als dies von einzelnen Staaten, etwa Großbritannien, gewünscht wird. Um diese Achse werden sich voraussichtlich sich auch künftig weitere Staaten gruppieren, die zur engen Kooperation bereit und auch ökonomisch/politisch dazu in der Lage sind.
Das einheitliche Erscheinungsbild der EU nach außen, bis in die frühen 1990er Jahre mit großzügigen Subventionen aufrechterhalten, ist in dieser Form nicht mehr länger möglich. An seine Stelle wird wohl eine verstärkte innere Differenzierung der EU treten, mit einer Kerngruppe, deren Führungen zu den Vorreiterinnen einer weiteren kapitalistischen Integration gehören werden, und einer Gruppe von Staaten, die zu diesem Schritt aus innenpolitischen Gründen und/oder - mit Rücksicht auf ein engeres Verhältnis zu den USA, wie es etwa neben Großbritannien auch Polen besitzt - aus außenpolitischen Erwägungen nicht bereit dazu sind.
Das Erscheinungsbild der EU wird sich in der kommenden Periode aller Wahrscheinlichkeit nach auffächern und in Richtung eines Europas der konzentrischen Kreise tendieren. Dazu trägt auch bei, dass es sich für die führenden Konzerne der EU nicht lohnen wird, die osteuropäischen Halbkolonien über großzügigere Finanzspritzen rascher an das Lebensniveau in den hochentwickelten kapitalistischen Metropolen (West-) Europas heranzuführen.
Aus diesem Grund gibt für das europäische Kapital auch keinen Grund, der von vorneherein gegen eine Aufnahme der Türkei sprechen würde. Die großen bäuerlichen Massen, die nach einem Beitritt an die Türen Westeuropas klopfen könnten, würde die EU mit Sonderregelungen sicherlich in den Griff bekommen; die Konzerne könnten durchaus von zusätzlichem Lohndruck profitieren. Die Ruhigstellung der großen türkischen Bevölkerung für das ohnehin belastete EU-Budget wäre sicher ein erhebliches Problem, ebenso die ungelöste kurdische Frage.
Die Angst des EU-Establishments besteht aber vor allem darin, dass mit einer Aufnahme der Türkei die Grenzen der EU bis an die Krisenzone des Vorderen Orients herangeführt würde. Das könnte die erst im Aufbau befindliche militärische Kapazität der EU überdehnen. Zusätzlich würde mit einer traditionell eng mit den USA verflochtenen Türkei ein gewichtiger Partner als Mitglied aufgenommen werden, dessen Loyalität in einer verstärkten künftigen möglichen Blockbildung auch gegen die bisherige Schutzmacht USA erst noch eines Beweises bedarf - die Rücknahme der türkischen Unterstützung der USA im Irakkrieg mag in diesem Zusammenhang als Vorleistung gelten, wird aber noch nicht als Beweis für Integrationsfähigkeit und Pakttreue gesehen. Die türkischen Soldaten und die militärisch erfahrene Türkei als Soldat sind für den imperialistischen EU-Block mittelfristig aber sicher auch sehr interessant.
Die Schwierigkeiten bei der am 3. Oktober 2005 erfolgten offiziellen Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit der Türkei sind ein Beweis dafür, dass innerhalb der EU die chauvinistischen Stimmungen eines christlichen Europa gegenüber der islamischen Türkei nicht verstummt sind. Revolutionär/inn/e/n müssen diesen Chauvinismus natürlich konsequent bekämpfen. Es wäre jedoch fatal, aus dem eine (kritische) Unterstützung der Aufnahme der Türkei zu folgern. Auch im Falle der Türkei gilt: Wir haben kein Interesse an der Stärkung dieser Art von vereintem Europa, dessen Interessen auf die Formierung eines eigenständigen Imperialismus gerichtet sind und dessen Ziel es ist, eine selbständige Großmachtpolitik nach innen und außen umzusetzen.
10. Eine revolutionäre Antwort auf die auch in der offiziellen EU-Politik gegenüber der Türkei auftretenden Widersprüche und auf den nach wie vor weitergehenden Prozess einer kapitalistisch inspirierten EU-Vereinigung, der in Richtung auf die Herausbildung eines europäischen imperialistischen Blocks gerichtet ist, kann nicht in einem Zurück zum Nationalstaat liegen. So richtig ein sozial inspiriertes niederländisches und französisches Nein zum Verfassungsentwurf auch gewesen war, es war nicht mehr als eine defensive Abwehrhaltung gegen ein unsoziales, militaristisches Projekt, das die ökonomischen und politischen Angriffe der letzten Jahre zu einem vom Grundgesetz legitimierten Generalangriff auf den sozialen Besitzstand ausweiten sollte.
Die Antwort kann auch nicht in der Illusion eines sozialen Europas liegen, das mit einem von unsozialen Passagen gereinigten Neuentwurf einer Verfassung garantiert werden sollte. Selbst der Wegfall aller neoliberalen Passagen und die Aufnahme einiger sozialer Phrasen würde am Grundcharakter der Verfassung und des Staatenbündnisses, das sie repräsentiert, nicht das Geringste ändern - das EU-Projekt ist ein Projekt der großen Konzerne, ein Projekt des Kapitals und eines sich unter deutsch-französischer Vorherrschaft und in deren Windschatten formierenden europäischen Imperialismus. Die Antwort muss den positiven Impuls aufgreifen, der durch das Niederreißen der Zollschranken, des Wegfalls der Passkontrollen und eines großen, einheitlichen Währungsraumes innerhalb eines Teils von Europa entstanden ist.
Eine weiter gehende Vereinigung Europas auf kapitalistischer Grundlage ist nach wie vor möglich, ja sogar wahrscheinlich. Die längerfristige Stabilisierung und Absicherung des Euro als Einheitswährung wird im Gegenteil sogar einen permanenten Druck auf eine tiefere Vereinigung und eine Harmonisierung von Steuer- und Rechtssystemen erforderlich machen - und das ist nur der äußere Ausdruck einer inneren Tendenz, zu der das europäische Kapital, will es als eigenständiger Player auf weltweiter Ebene mit eigenen Ambitionen auftreten, gezwungen sein wird.
Aber eine Einigung Europas auf fortschrittlicher Grundlage wird das alles nicht bringen. Denn auch ein anderes Europa wird, sollten die Grundlagen des Kapitalismus nicht angetastet werden, ein imperialistisches Europa bleiben. Es ist ein Europa, dessen Klassencharakter immer unverschleierter hervortritt, das seine imperialistischen Ambitionen rücksichtslos durchsetzt und sich mit immer höheren Mauern gegen Immigrant/inn/en abschottet, deren einziges "Verbrechen" es ist, ein menschenwürdiges Leben führen und am bescheidenen Wohlstand partizipieren zu wollen, den sich die europäischen Massen in den letzten hundert Jahren erkämpft haben - einem Wohlstand, der nicht zuletzt durch die Spielräume der europäischen Kapitalien ermöglicht wurde, die sich diese durch die Ausplünderung der imperialisierten Länder erworben haben.
Ein anderes Europa wird ein sozialistisches Europa sein müssen. Nach wie vor ist die von Trotzki und der revolutionären Arbeiter/innen/bewegung entwickelte Position aktuell: Wir stellen dem Europa der Konzerne, dem Europa des Imperialismus und der Ausbeutung, den Kampf für die vereinigten sozialistischen Staaten Europas als Teil einer föderativen sozialistischen Weltrepublik gegenüber!
Beschlossen von der Mitgliederversammlung der AGM am 26. November 2005 (nach einem Entwurf von Manfred Scharinger)
Beschlossen von der Vollversammlung der AL am 18. Februar 2006
Ergänzungsthesen
I. Diese gemeinsame Militärpolitik ist eine der wesentlichsten Komponenten der Europäischen Union. Vor allem das deutsche und das französische Kapital wollen militärisch nicht länger auf die Ordnungsmacht USA angewiesen sein. Denn momentan ist das militärische Potential der EU noch weit unter jenem der Vereinigten Staaten. Das Militärbudget aller EU-Staaten zusammen ist deutlich niedriger als das der USA, die Effizienz der kombinierten EU-Streitkräfte - aufgrund von Parallelstrukturen, geringer Zentralisierung und getrennten Armeen noch wesentlich niedriger. Während die US-Verteidigungsdoktrin die Machbarkeit zweier parallel laufender Angriffskriege der US-Armee vorsieht, waren die europäischen Imperialismen im Jahr 1999 politisch nicht einmal im Stande, eigenständig in Jugoslawien, also am eigenen Kontinent, zu intervenieren.
Die Militarisierung der Union umfasst neben dem Aufbau sogenannter "Schlachtgruppen", die binnen weniger Tage weltweit eingesetzt werden können und einer Professionalisierung und Aufrüstung der einzelnen nationalen Armeen, insbesondere auch eine Erneuerung und Aufrüstung des Arsenals an Atomwaffen. Zum Einsatz letzterer bekennen sich immer mehr VertreterInnen der herrschenden Klassen Europas mehr oder weniger offen. Klar ist aber auch, dass die europäischen Eliten, viel mehr noch als jene der USA, die wahren Gründe für mögliche Kriegseinsätze hinter Begriffen wie "Friedenssicherung" oder "Terrorismusbekämpfung" verschleiern müssen. Diese Gründe aufzudecken, wird auch in Zukunft eine wichtige Aufgabe für MarxistInnen sein.
II. Eine wesentliche Voraussetzung der kapitalistischen Vereinigung Europas ist ihre ideologische Rechtfertigung und somit ihre Akzeptanz in der Bevölkerung. Immer intensiver wird dementsprechend versucht, ein "Wir Europäer"-Gefühl zu vermitteln, eine europäische Identität und einen europäischen Patriotismus zu schaffen. Wie jeder Patriotismus funktioniert auch dieser in Abgrenzung zu Außenstehenden. Plumpe Antiamerikanismen tauchen immer öfter in den Medien auf und spielen hier eine wesentliche Rolle, genauso wie antiislamische Propaganda, die als ideologische Stütze möglicher zukünftiger Militärschläge gegen islamisch dominierte Staaten herhalten könnte. MarxistInnen müssen sich dieser Projizierung auf den scheinbaren Außenfeind widersetzen und wie Karl Liebknecht als Hauptfeind weiter den Imperialismus des eigenen Landes benennen.
III. Je mehr die traditionellen nationalen Grenzen innerhalb der EU verschwinden, umso mehr schottet sich die "Festung Europa" nach Außen ab. Während sich die herrschenden Eliten einst das Maul über den "Eisernen Vorhang" der stalinistischen Staaten zerrissen, verteidigen sie nun ihren eigenen Eisernen Vorhang mit Feuer und Schwert. Sichtbarer Ausdruck dieses Umstandes ist das "Schengener Abkommen", das die Freizügigkeit der Bewegung innerhalb der EU regelt und gleichzeitig ihre Außengrenzen dicht macht. An diesen Grenzen werden Flüchtlinge, die verständlicherweise am bescheidenen Wohlstand der Massen in Europa teilhaben wollen, gnadenlos gejagt. Tausende Menschen kamen in den letzten 15 Jahren an den EU-Außengrenzen ums Leben, die meisten davon an der Meerenge zwischen Spanien und Marokko.
Die Errichtung der "Festung Europa" zeigt bloß, dass der Kapitalismus im 21. Jahrhundert nicht im Stande ist, großen Teil der Weltbevölkerung auch nur eine Grundversorgung zu bieten, auch wenn dies heute einfacher wäre als je zuvor. Der tödlichen Flüchtlingshatz der Herrschenden stellen wir die freie Migration der Unterdrückten, egal aus welchen Gründen, entgegen.
IV. Die Satelliten Mittel- und Osteuropas spielen keine eigenständige Rolle - sie sind ökonomisch und dadurch auch politisch völlig von Westeuropa, vor allem von Deutschland, abhängig (obwohl sie teilweise militärisch noch eng mit den USA kooperieren). Die Privatisierungsraten sind hoch und ein großer Teil der Unternehmen ist in ausländischer, respektive westeuropäischer Hand. Allerdings ist die Dominanz ausländischen Kapitals in den verschiedenen Staaten Osteuropas unterschiedlich hoch ausgeprägt. Groß ist sie besonders in Tschechien, Ungarn oder Estland, klein beispielsweise in Slowenien. Die herrschenden Klassen dieser Länder sind schwach und unfähig, ihre Interessen eigenständig zu artikulieren. Dieser Umstand ist begründet durch die jahrzehntelange Entmachtung der osteuropäischen KapitalistInnen durch den Stalinismus. Nach dessen Fall konnten sie nicht als hauptsächliche TrägerInnen der kapitalistischen Restauration fungieren - dies wurde vom ausländischen Kapital einerseits und Teilen der stalinistischen Bürokratie andererseits übernommen.
Einstweilen sind acht Staaten aus diesem Raum Mitglieder der EU, kurzfristig werden Rumänien, Bulgarien und wohl auch Kroatien hinzukommen. Anvisiert wird mittelfristig die Aufnahme der Balkanstaaten Serbien/Montenegro, Bosnien-Herzegowina, Albanien und Mazedonien. Langfristig sind engere Kooperationen mit Moldawien, Weißrussland, der Ukraine, der Türkei, den Staaten des Nahen Ostens sowie den, an die EU angrenzenden, Mittelmeerstaaten wahrscheinlich. Allerdings werden die Aufnahmen neuer Mitglieder das Gesicht der EU verändern, weil sie die Entwicklung zu einem "Europa der konzentrischen Kreise" beschleunigen werden. So wird sich das westeuropäische Kapital gut überlegen, welchen dieser Länder gestattet werden wird, Teil des Euro-Raums zu werden oder neben der "Freiheit des Kapitalverkehrs" auch die Freiheit der Arbeitsplatzsuche in der gesamten EU in Anspruch nehmen zu dürfen. (Zur EU-Osterweiterung 2004 siehe auch die entsprechenden Thesen der AGM)
V. In der Frage eines möglichen EU-Beitritts der Türkei dürfen sich MarxistInnen nicht auf die bürgerliche "Ja/Nein-Logik" einlassen. Einerseits würden wir einen möglichen Beitritts-Wunsch der türkischen ArbeiterInnenklasse unter der Prämisse des Selbstbestimmungsrechts der Völker respektieren, andererseits aber vor den Implikationen und Folgen eines solchen Beitritts warnen. In Westeuropa müssten MarxistInnen dabei vor allem den Kampf gegen eine rassistische Verhinderung des Beitritts führen, in der Türkei vor allem vor den Folgen dieses Beitritts warnen. Aber beide Varianten - sowohl eine, in die kapitalistische EU integrierte, Türkei, als auch eine "eigenständige" kapitalistische Türkei (als militärischer Juniorpartner des US-Blockes) - repräsentieren reaktionäre Lösungen. Deswegen kann es auch nicht die Aufgabe revolutionärer Organisationen sein, für oder gegen einen EU-Beitritt bestimmter Länder zu kämpfen, sondern die internationale ArbeiterInnenklasse für den gemeinsamen Kampf gegen das System des Imperialismus zu gewinnen. Klar ist, dass die europäische ArbeiterInnenbewegung im Falle einer Aufnahme der Türkei in die EU dafür eintreten muss, dass die Kosten dieses Beitritts nicht den ArbeiterInnen aufgebürdet werden, sondern den KapitalistInnen.
VI. Österreich spielt im Prozess der kapitalistischen Einigung Europas eine willige Rolle. Österreichische KapitalistInnen drängten in den 90er Jahren auf den Beitritt zur Union, österreichische Unternehmen profitieren heute von der EU und ihrer Osterweiterung. Vor allem in Mittel- Ost- und Südosteuropa ist das, ansonsten international eher unbedeutende, österreichische Kapital ein wichtiger Akteur. 2004 war Österreich der größte Investor in Slowenien und Rumänien, der zweitgrößte in Tschechien und der drittgrößte in Ungarn. In der jüngsten Vergangenheit - konkret mit dem Kauf der rumänischen BRC-Bank durch die Erste-Bank und der Beteiligung der OMV am rumänischen Erdölkonzern Petrom - haben sich die österreichischen Direktinvestitionen auch mehr in Richtung Südosteuropa konzentriert.
Auch wenn so manche Organe der Bourgeoisie, z.B. die "Kronen Zeitung", gegensätzliches vermitteln - die österreichischen KapitalistInnen sind durch und durch auf Pro-EU-Kurs. Zudem ist das österreichische Kapital traditionell sehr intensiv mit dem deutschen Kapital verbunden. Im Falle einer vertieften Integration wird Österreich also voraussichtlich mit Deutschland und Frankreich gehen. Inwieweit es die herrschende Klasse schafft, dabei den Hemmschuh gewisser legistischer Beschränkungen, vor allem des Neutralitätsgesetzes, zu überwinden, bleibt abzuwarten. In Regierung, Militär und parlamentarischer Opposition gibt es jedenfalls starke Tendenzen zu einer intensivierten Teilnahme an einer europäischen imperialistischen Militärpolitik.
Manfred Scharinger